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Die gesellschaftlichen Folgen der schwedischen Integrationspolitik – Eine Analyse nach der Theorie von Wilhelm Heitmeyer

Journalistischer Abstract:

Die vorliegende Bachelorarbeit im Bereich der Politikwissenschaft untersucht anhand des Beispiels der Integrationspolitik in Schweden, inwieweit diese zum Erstarken von rechten Bewegungen in der Gesellschaft beigetragen hat. Inspiriert von Wilhelm Heitmeyers Theorie wagt sie sich an die These heran, dass globale "Desintegrationsprozesse" und "Demokratieentleerungen" eine verstärkte Fremdenfeindlichkeit und rechte Tendenzen zur Folge haben. Wie ist die Integrationspolitik mit dem politischen und gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte in Schweden verknüpft? Das ist die Frage, auf die diese Analyse eine Antwort zu geben sucht. Dabei wird ein umfassender Einblick in die Zusammenhänge zwischen Integrationspolitik und rechten Tendenzen geboten und ein starker Fokus auf die kritische Reflexion von Erfolgen und Misserfolgen dieser Politik gelegt.


  1. Einleitung


„Mitte Oktober stellten die vier Parteien die sogenannte Tidö-Übereinkunft vor, in der die Grundzüge der Regierungsvorhaben festgelegt sind. Die Vorschläge führten zu einem Aufschrei unter Menschenrechtsaktivisten und Flüchtlingshelfern. Doch blieb zunächst unklar, ob und, wenn ja, wie viel davon verwirklicht würde. Nun aber geht die Regierung zunehmend umstrittene Maßnahmen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik an. [...] In vielem hat Schweden damit Dänemark zu Vorbild. Dort ist die Ausreise von Flüchtlingen vorderstes Ziel, nicht deren Integration.” (Staib, 2023)


Das Zitat stammt aus dem Artikel „Schwedens Vorbild ist Dänemark” aus der Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 31. Mai 2023. Der Artikel beschreibt die Pläne der 2022 gewählten Regierung in Schweden in Bezug auf die Einwanderungs- und Integrationspolitik. Diese werden als problematisch dargestellt, als ein Weg in eine Gesellschaft, in der unterschiedliche Gruppen unterschiedliche Rechte haben und Ausgrenzung das Ziel ist, nicht Integration. Der Umgang mit Migranten und Flüchtlingen ist spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 ein viel diskutiertes und umstrittenes Thema. Dabei fallen in letzter Zeit insbesondere die skandinavischen Länder mit ihrer restriktiven Einwanderungspolitik auf. Dänemark, welches als liberales Einwanderungsland galt, führt seit 2019 unter dem Einfluss der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei eine immer striktere Einwanderungspolitik und reduziert die Einwanderungszahlen drastisch. Ähnliche Entwicklungen sind in Schweden, Finnland und Norwegen zu beobachten. Während in der Politik rechte Bewegungen immer mehr Zustimmung erfahren, scheint in der Bevölkerung die Fremdenfeindlichkeit zu wachsen. Erst im Juni dieses Jahres führte eine Koranverbrennung vor der irakischen Botschaft in Schweden zu Protesten im Irak, Iran und Pakistan und zu heftigen Diskussionen um den Stellenwert und die Grenzen öffentlicher Meinungsäußerung. Das Thema der Integration von Einwanderern ist sehr aktuell und gewinnt, mit Blick auf die steigenden Migrations- und Flüchtlingszahlen, zunehmend an Relevanz. Dabei geht es nicht nur darum, wie einzelne Länder ihre Integrationspolitik gestalten, sondern auch um die Solidarität der Länder, insbesondere der Europäischen Union als Flüchtlingsziel und um die Frage, was die Gesellschaft zur Integration beitragen muss und wie es gelingt, diese miteinzubeziehen. Mit diesem Thema setzt sich die vorliegende Arbeit anhand des Beispiels der Integrationspolitik in Schweden auseinander und untersucht, inwiefern diese zum Erstarken von rechten Bewegungen in der Gesellschaft geführt hat. Sie betrachtet die Frage: „Inwieweit hängt der gesellschaftliche und politische Wandel der letzten Jahre in Schweden mit der dortigen Integrationspolitik zusammen?”. Auf Grundlage der Theorie von Wilhelm Heitmeyer behandelt sie die These, dass durch die Globalisierung verursachte „Desintegrationsprozesse” und „Demokratieentleerungen” echte und gefühlte Kontrollverluste erzeugen, die zu rechten Bewegungen und zu einem erhöhten Aufkommen von Fremdenfeindlichkeit führen. Diese These wird auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Schweden angewendet und es wird untersucht, inwiefern die schwedische Integrationspolitik der vergangenen Jahre eine Rolle bei diesen Entwicklungen gespielt hat. Dabei wird ebenfalls untersucht, inwiefern die Integrationspolitik als gescheitert betrachtet werden kann.


1.1 Ziel der Arbeit


Die Arbeit stellt somit einen Ansatz dar, die Ursachen des Strebens nach autoritärer Politik zu ergründen. Sie untersucht die Faktoren, welche ein Erstarken der Fremdenfeindlichkeit in einer Gesellschaft fördern und die Frage, wie diese entstehen. Dabei ist wichtig anzumerken, dass die in der Arbeit beschriebenen Kontrollverluste nach der Theorie von Wilhelm Heitmeyer nicht die einzige Ursache für den politischen Erfolg von rechten Bewegungen sind. Sie stellen lediglich eine Theorie dar, die einen solchen politischen Erfolg erklärt. Der Umfang dieser Arbeit erlaubt es nicht, die gesellschaftlichen Entwicklungen in Schweden vollständig zu analysieren und zu begründen. Der Anspruch der Arbeit ist daher, aufzuzeigen, ob und warum eine gelungene Integrationspolitik wichtig ist und welche Auswirkungen es hat, wenn eine solche nicht existiert. Dabei bezieht sie sich auf die Auswirkungen auf die Gesellschaft und deren politische Orientierung. Sie beschäftigt sich nicht vorrangig mit dem politischen System in Schweden und der Frage, ob dieses rechte Bewegungen stärker ermöglicht oder fördert als andere Länder. Die Strategie und Vorgehensweise von rechten Bewegungen oder Parteien wie den Schwedendemokraten stehen ebenfalls icht im Vordergrund der Analyse, da diese den Rahmen der Arbeit überschreiten würde. Die Arbeit konzentriert sich daher darauf, warum rechte Bewegungen in den vergangenen Jahren verstärkte Unterstützung in der Gesellschaft erhalten und ob die Unterstützung und das damit verbundene Streben nach einer autoritären Politik mit Kontrollverlusten zusammenhängt, die die schwedische Bevölkerung erlebt oder glaubt, zu erleben.


1.2 Forschungsmethode


Für die Beantwortung der Forschungsfrage setzt sich die Arbeit mit der Theorie Heitmeyers auseinander. Sie beschäftigt sich mit dem Buch „Autoritäre Versuchungen” und fasst die Theorie des Buches zusammen. Dabei konzentriert sich die Analyse auf die von Heitmeyer beschriebenen Kontrollverluste. Aufgrund des Umfangs des Buches ist es nicht möglich, alle Aspekte der Theorie mit einzubeziehen. Die Arbeit beschäftigt sich daher nur mit den Aspekten, die für die Bildung der grundlegenden These entscheidend und somit wichtig für die Beantwortung der Forschungsfrage sind. Die Theorie des Buches wird darauffolgend mithilfe von Literaturrecherche auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Schweden angewendet und die Kontrollverluste mit der schwedischen Integrationspolitik in einen Zusammenhang gebracht. Zu Beginn der Arbeit wird die Theorie Heitmeyers erläutert, wobei zunächst die „Desintegrationsprozesse” und die „Demokratieentleerung” im Fokus stehen, durch welche Kontrollverluste ausgelöst werden. Im Folgenden geht die Arbeit auf die Integrationspolitik in Schweden in der Vergangenheit, auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung der letzten Jahre und darauf ein, wie diese die Maßnahmen der Integrationspolitik verändert hat. Dadurch wird ein Überblick über die Lage in Schweden in Bezug auf die Integrations- und Einwanderungspolitik geschaffen und verdeutlicht, warum das Thema an Bedeutung gewinnt. Abschließend wird die Theorie Heitmeyers auf die Entwicklungen in Schweden angewendet und untersucht, inwiefern in Schweden Kontrollverluste stattfinden, die die politischen Entwicklungen begründen. Die Analyse hat dabei die Analyse Heitmeyers zum Vorbild, welcher in dem Buch „Autoritäre Versuchungen” besagte Kontrollverluste in Deutschland nachweist.


2. Wilhelm Heitmeyer: „Autoritäre Versuchungen“


Wilhelm Heitmeyer wurde 1945 geboren und ist ein deutscher Soziologe und Professor an der Universität Bielefeld. In Bielefeld studierte er Erziehungswissenschaften und Soziologie und promovierte 1977. Er war der Gründungsdirektor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Heitmeyers Forschungsschwerpunkt liegt auf der empirischen Forschung zur Entstehung und Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremistischen Bewegungen. Er beschäftigt sich mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Gewalt und sozialer Desintegration. Zu diesen Themen veröffentlichte er zahlreiche Arbeiten, darunter auch mehrere Bücher wie „Das Gewalt-Dilemma", „Die Durchrohung der Gesellschaft” und „Treiber des Autoritären”. Ein weiteres seiner Bücher heißt „Autoritäre Versuchungen” und wurde 2018 veröffentlicht. Diese Arbeit setzt sich genauer mit dem Thema dieses Buches auseinander, dass die Globalisierung mit Kontrollverlusten für die Gesellschaft und für Individuen einhergeht, welche zu einem Erstarken des Rechtspopulismus führen. Heitmeyer publizierte diese Theorie bereits 2001. Das Buch nimmt die Theorie wieder auf, ergänzt und korrigiert sie, und beweist sie anhand der politischen Entwicklungen in Deutschland, speziell anhand des Aufkommens der AfD und der Pegida-Aktivitäten. Die Analyse Heitmeyers beschränkt sich größtenteils auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und verwendet unter anderem Studien aus anderen Forschungen des Autors, wie zum Beispiel die Langzeitstudie Heitmeyers zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit.


In dem Buch „Autoritäre Versuchungen” entwickelt Heitmeyer die These, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein autoritärer Kapitalismus herausgebildet hat, welcher Kontrollverluste erzeugt, wodurch autoritäre Versuchungen und Rechtpopulismus gefördert werden. Der Begriff des autoritären Kapitalismus bezieht sich hierbei auf die globale Ausweitung des kapitalistischen Systems und eine damit einhergehende Rückentwicklung liberaler, demokratischer Prozesse. Das Buch analysiert die These:


„, dass die Erfolge rechter Bewegungen und Parteien nicht möglich gewesen wären ohne bestimmte Entwicklungen im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus, im politischen System der Demokratie und im sozialen System der Gesellschaft. Deshalb soll das Zusammenwirken von autoritärem Kapitalismus, sozialen Desintegrationsprozessen und politischer Demokratieentleerung als Ursachenmuster für die Realisierung autoritärer Sehnsüchte analysiert werden.” (Heitmeyer, 2018, S. 16-17)


Die Desintegrationsprozesse und die Demokratieentleerung hätten die Folge von Kontrollverlusten auf gesellschaftlicher, politischer und individueller Ebene, welche zu autoritären Versuchungen führten, die den Erfolg von rechten Bewegungen erleichtern. Der autoritäre Kapitalismus sei dabei durch die Globalisierung möglich geworden, wobei Heitmeyer sich hier auf die ökonomisch-technologische Globalisierung bezieht. Durch diese werde das Kräfteverhältnis zwischen der kapitalistischen Ökonomie und der politischen Demokratie beeinflusst, wobei die Demokratie an Macht verliere. Die autoritäre Macht der kapitalistischen Ökonomie werde durch die Dominanz ökonomischer Institutionen verdeutlicht. Der autoritäre Kapitalismus gehe mit einem Kontrollgewinn für ökonomische Akteure einher, welcher einen Kontrollverlust für die nationalstaatliche, demokratisch legitimierte Politik bedeute.


Die Globalisierung teile sich dabei in drei Betrachtungsweisen. Zum einen gebe es die technologische Betrachtung, welche sich auf die Geschwindigkeit der Innovationen und die daraus resultierende Umstellung bezieht. Zum anderen gebe es die ökonomische Betrachtung, welche sich mit der Deregulierung und der Integration der Kapitalmärkte in die Gesellschaft beschäftigt, und zuletzt gebe es die politikwissenschaftliche Betrachtung, welche sich mit der durch die Globalisierung entstehende Krise des Nationalstaates beschäftigt. Heitmeyer vertritt dabei die These, dass der uneingeschränkte Markt alle Gebiete der Gesellschaft invadiert und die Marktwirtschaft dadurch in eine Marktgesellschaft verwandelt. Die Wertungen und Handlungsmuster der Marktwirtschaft würden dadurch immer weiter in die Gesellschaft integriert und setzen alle anderen Wertehaltungen außer Kraft. Daher trifft Heitmeyer die Annahme, dass die „Zunahme globaler ökonomischer Integration mit der Abnahme innergesellschaftlicher sozialer Integration über den Arbeitsmarkt einhergeht” (Heitmeyer, 2018, S. 40). Diesen Prozess bezeichnet Heitmeyer als Desintegrationsprozess.


2.1 Desintegrationsprozesse


Der fortlaufende Desintegrationsprozess des Individuums von der Gesellschaft sei durch mehrere Faktoren gekennzeichnet. Zum einen gebe es eine wachsende Unsicherheit der materiellen Reproduktion, der Anerkennung, des Status und dessen Sicherung, sowie einen gefühlten Kontrollverlust über die eigene Biografie. Zum anderen gebe es die Wahrnehmung, dass die eigene Stimme oder die Gruppe, der sich das Individuum zugehörig fühlt, nicht mehr von der Politik wahrgenommen oder von dieser ignoriert werde. Außerdem spiele das Abnehmen der emotionalen Zugehörigkeit eine Rolle. Dazu zähle die Verlässlichkeit sozialer Beziehungen und die Anerkennung der Identität, bzw. die Identität der eigenen Gruppe gegenüber Dritten (Heitmeyer, 2018, S. 22).



Die Tabelle (Abbildung 1) veranschaulicht die Theorie Heitmeyers zu der Integrations- und Desintegrationsdynamik in einer Gesellschaft. Dabei bezieht sich der Begriff der Integration nicht nur auf Migranten, welche neu in eine Gesellschaft integriert werden, sondern auf alle Personen und Gruppen einer Gesellschaft, welche eine Integration oder Desintegration erleben können. Das Konzept umfasst dabei drei Dimensionen, in denen eine Integration oder Desintegration stattfinden kann: die sozialstrukturelle Dimension, die institutionell-partizipatorische Dimension und die personale Dimension. In den drei Dimensionen unterscheidet Heitmeyer außerdem zwischen der objektiven und der subjektiven Ebene. Dabei bezieht sich die objektive Ebene auf die gesellschaftlich angebotenen Gelegenheitsstrukturen und die subjektive Ebene auf Anerkennung. In der Tabelle sind die Kriterien aufgelistet, welche gegeben sein müssen, damit Integration gelingt. Sie erläutert, welche Gelegenheitsstrukturen eine Gesellschaft auf der objektiven Ebene anbieten muss, damit eine Integration möglich wird. Sind die Gelegenheitsstrukturen in einer der Dimensionen nicht gegeben, haben Individuen oder Gruppen Desintegrationserfahrungen, welche zu Anerkennungsverlusten auf der subjektiven Ebene führen. Diese Anerkennungsverluste wiederum führen zu einer wachsenden Folgebereitschaft für autoritäre Angebote, da diese das Wiedererlangen der Anerkennung, auch durch die Abgrenzung schwächerer Gruppen, versprechen. Beispielweise könne auf der sozialstrukturellen Ebene die positionale Anerkennung gefährdet werden, z.B. in Form von befürchteten Statusverlusten, wenn es durch fehlende Gelegenheitsstrukturen zu prekären Arbeitsverhältnissen oder einer gefährdeten sozialen Absicherung kommt. In der institutionell-partizipatorischen Dimension wiederum müsse die moralische Anerkennung gesichert werden. Dies geschehe durch die Möglichkeit der Teilnahme an öffentlichen Debatten und das Vertreten der eigenen Werte, sowie durch die politische Repräsentation der eigenen Gruppe durch Parteien und ihre Angebote. In der dritten Dimension, der personalen Dimension geht es um die emotionale Anerkennung, welche gesichert werde durch die Herstellung sozialer Zugehörigkeit und Unterstützung. Dabei müssen die Entwicklung personaler Identität und die Akzeptanz kollektiver Identitäten gesichert werden, um eine Desintegration zu vermeiden (Heitmeyer, 2018, S. 150). Nach Heitmeyer kommt es zu Desintegrationserfahrungen, wenn eine oder mehrere dieser Kriterien nicht erfüllt werden. Heitmeyer fügt zu den Desintegrationserfahrungen noch zwei weitere Faktoren hinzu, welche aus einer Analyse von Jürgen Mansel stammen (Heitmeyer, 2018, S. 166). Dies sind zum einen eine Orientierungslosigkeit in Folge des schnellen Wandels der globalen Wirtschaft und zum anderen ein Flexibilitätszwang und eine Bindungslosigkeit, um im autoritären Kapitalismus bestehen zu können. Diese Faktoren führen zusammen mit der Desintegration zu Kontrollverlusten. Diese Kontrollverluste oder Verunsicherungen können zu einer autoritären Unterwürfigkeit führen, welche die Verunsicherungen reduziert oder kompensiert, indem Personen durch autoritäre Persönlichkeiten oder Parteien und deren Positionen Halt suchen (Heitmeyer, 2018, S. 167). Das Gefühl von Machtlosigkeit der eigenen Position verstärke dabei häufig den Wunsch nach einer starken Führungskraft. Personen versuchen außerdem, die Kontrolle wiederzuerlangen, indem sie andere für vermeintliches Fehlverhalten bestrafen. Personen, die desintegrationsgefährdet sind, würden mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu neigen, fremde oder von der Norm abweichende Personen als Konkurrenz oder Bedrohung wahrzunehmen. Desintegrationserfahrungen seien daher ein Indikator für das Auftreten von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (Heitmeyer, 2018, S. 168). Die Desintegrationsprozesse, ausgelöst durch die Globalisierung und den autoritären Kapitalismus, und die damit einhergehenden Kontrollverluste sind nach Heitmeyer ein Auslöser für autoritäre Versuchungen und Fremdenfeindlichkeit. Ein weiterer Auslöser sei die wachsende politische Demokratieentleerung, welche ebenfalls durch die Globalisierung und den Kapitalismus ausgelöst wird.

2.2 Demokratieentleerung


Nach Heitmeyer ist eine weitere Folge der Globalisierung eine weltweite Demokratieentleerung. Die westlichen etablierten Demokratien würden aufgrund der Entwicklungen des autoritären Kapitalismus vor großen Herausforderungen stehen. Die Demokratieentleerung sei dabei an der „inneren Qualität” (Heitmeyer, 2018, S. 177) der Demokratien zu erkennen. Diese innere Qualität werde fortlaufend autoritärer durchgesetzt. Heitmeyer verweist hier auf die Untersuchungen von Freedom House, nach denen es im Jahr 2016 in 67 Ländern eine Abnahme von politischen Rechten und gesellschaftlichen Freiheiten gegeben habe, während in nur 36 Ländern ein Zuwachs zu erzeichnen war (Heitmeyer, 2018, S. 177). Diese Entwicklungen seien bereits seit 2006 erkennbar. Der zentrale Punkt sei hierbei die Ökonomisierung des Politischen, die mit einem Kontrollgewinn für wirtschaftliche Akteure und einem Kontrollverlust für die nationalstaatliche Politik einhergehe. Der autoritäre Kapitalismus sorge für eine Verbreitung von ökonomischen Imperativen, welche die Desintegrationsprozesse weiter verstärken. Dies wirke sich insbesondere auf die schwächeren Gruppen einer Gesellschaft negativ aus. Dabei können die demokratisch legitimierten politischen Institutionen aufgrund der Kontrollverluste immer weniger Schutz anbieten. Die demokratisch legitimierte Politik werde vielmehr dazu gezwungen, sich dem autoritären Kapitalismus anzupassen, während die Institutionen und Vertreter des Kapitalismus nicht demokratisch legitimiert seien. Heitmeyer bezeichnet dieses Modell als „marktkonforme Demokratie” (Heitmeyer, 2018, S. 180), welches heutzutage als unvermeidbar angesehen werde. Dieses Modell könne eine Alternativlosigkeit bei politischen Entscheidungen erzeugen, da diese marktkonform sein müssen. Dies wiederum führe dazu, dass der Bevölkerung suggeriert werde, dass ihre Beteiligung keinen Unterschied mache, wodurch diese aufgrund von politischer Unzufriedenheit aufhöre, am demokratischen Prozess teilzunehmen. Dies verschärfe die Demokratieentleerung weiter. Die Entwicklung führe zu einem Aufkommen des autoritären Nationalradikalismus (Heitmeyer, 2018, S. 181), unter anderem mit der Forderung nach einer direkten Demokratie. Die AfD in Deutschland sei unter anderem auch deshalb erfolgreich, weil sie den Wunsch äußert, internationale Verpflichtungen aufzulösen und die verlorene nationale Kontrolle wiederzuerlangen.


Heitmeyer baut hier einen Zusammenhang zwischen der Demokratieentleerung und dem Aufkommen von autoritären Versuchungen und rechten Bewegungen auf. Dieser entstehe dadurch, dass ein großer Teil der Bevölkerung durch die Demokratieentleerung ein Gefühl der Machtlosigkeit und Entfremdung vom politischen System entwickele. Sie fühle sich außerdem immer weniger repräsentiert, was einen Effekt der sozialen Desintegration darstelle. Heitmeyer verweist hier auf die Wahlbeteiligung in Deutschland, die seit den Siebzigerjahren fast durchgängig rücklaufend ist (Heitmeyer, 2018, S. 187). Diese Entwicklung entstehe in Deutschland nicht aufgrund von Zufriedenheit in der Bevölkerung, sondern aufgrund von Unzufriedenheit. Die Demokratieentleerung führe dazu, dass sie sich aufgrund von Unzufriedenheit aus dem politischen Prozess zurückzieht, also


„nicht in eine stabilisierende, sondern im Gegenteil in eine ‚wutgetränkte Apathie‘ verfällt und in die politische Arena erst dann zurückkehrt, wenn entsprechend wutgetränkte politische Angebote bereitstehen.” (Heitmeyer, 2018, S. 189)


Diese Unzufriedenheit komme häufig in der Abwertung und Diskriminierung von schwächeren Gruppen zum Ausdruck. Abwertung und Diskriminierung würden dabei in den sozial schwächeren Gruppen deutlich mehr Zustimmung erfahren als in anderen Gruppen der Gesellschaft. Heitmeyer fasst die Analyse folgendermaßen zusammen:


„Das Gefühl politischer Machtlosigkeit ist in den unteren sozialen Lagen stärker, das heißt häufiger, und auch die Feindseligkeit gegenüber schwachen Gruppen ist dort deutlich größer. Die Demokratieentleerung ist unter anderem deshalb so gefährlich, weil die Unzufriedenheit, die viele Menschen verspüren, häufig umgelenkt wird, mit der Konsequenz, dass schwächere Gruppen oft direkt für Probleme verantwortlich gemacht oder anderweitig abgewertet werden.” (Heitmeyer, 2018, S. 193)


Die in der Gesellschaft durch Demokratieentleerung auftretende Konstellation von Fremdenfeindlichkeit und politischer Entfremdung lasse sich schnell mit fremdenfeindlichen Attitüden instrumentalisieren und von rechtspopulistischen Parteien nutzen.

2.3 Kontrollverluste


Die gesellschaftlichen, politischen, sozialen und persönlichen Kontrollverluste spielen bei der Theorie Heitmeyers eine entscheidende Rolle. Wie bereits analysiert, führen die Desintegrationsprozesse und die Demokratieentleerung zu Kontrollverlusten in der Gesellschaft, welche häufig durch Fremdenfeindlichkeit und das Streben nach autoritärer Politik kompensiert werden. Neben den gefühlten oder echten persönlichen Kontrollverlusten gebe es jedoch ebenfalls Kontrollverluste auf anderen Ebenen, welche das Verhältnis zwischen der Demokratie und dem Kapitalismus betreffen. Durch die Globalisierung sei dieses Verhältnis außer Kontrolle geraten. In der Vergangenheit hätten sich Kapitalismus und Demokratie wechselseitig gezähmt. Dieses Verhältnis sei mittlerweile jedoch aufgehoben, da die demokratischen Nationalstaaten an Kontrolle gegenüber dem Kapitalismus verlieren. Die ausgleichenden Kontrollverhältnisse zwischen Kapitalismus und Demokratie würden somit nicht mehr bestehen. Damit seien die Kontrollverhältnisse zwischen ökonomischen und politischen Institutionen und ihren Auswirkungen auf die individuellen und sozialen Lebensverhältnisse gemeint. Kontrollverluste würden in diesem Zusammenhang auf fünf verschiedenen Ebenen stattfinden (Heitmeyer, 2018, S. 43):


1. Die politisch-institutionellen Kontrollverluste: Diese zeigen sich durch die Unterminierung der nationalstaatlichen Souveränität. Die Nationalstaaten erleben einen Kontrollverlust durch ihren abnehmenden Einfluss. Dies zeigt sich unter anderem durch fortlaufend neu entstehende transnationale Gesetze, sowie durch die Tatsache, dass sich ein Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten im elektronischen Raum abspielt, was die Steuerung und Kontrolle desgleichen erheblich erschwert.

2. Die kollektiven politischen Kontrollverluste: Diese Kontrollverluste betreffen gesellschaftliche Organisationen, welche an dem Aufbau des demokratischen Systems und an der Zähmung des Kapitalismus mitgewirkt haben. Die Kontrollverluste resultieren daraus, dass Abhängigkeiten z.B. zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr vollständig bestehen und somit auch die Möglichkeiten zur Organisation sinken.

3. Die politischen Kontrollverluste auf individueller Ebene: Diese betreffen die wachsende Anonymisierung der politischen Entscheidungsgremien, welche mittlerweile weitgehend unbekannt bleiben. Dies führt zu einer Entfremdung der Entscheidungsgremien von der Bevölkerung und erschwert die demokratische Willensbildung und die politische Identifikation.

4. Die sozialen Kontrollverluste: Mit den sozialen Kontrollverlusten sind die Kontrollverluste des Individuums über die eigenen Lebensverhältnisse gemeint. Diese entstehen durch den Flexibilisierungszwang im Arbeitsmarkt, welcher durch die Globalisierung entstanden ist. Die fragile Statussicherung und der häufigere Wechsel des Arbeitsplatzes erzeugen einen Umstellungszwang und Bedrohungsgefühle, da das Individuum weniger Kontrolle darüber hat, ob es im Arbeitsmarkt bestehen kann.

5. Die individuell-biographischen Kontrollverluste: Diese Kontrollverluste zeigen sich darin, dass die Menschen aufgrund des Kapitalismus die Kontrolle über ihr eigenes Leben verlieren. Das bezieht sich auf Bereiche wie „Zeitverfall, Kontinuitätsverfall und Anerkennungszerfall” (Heitmeyer,2018, S. 44), wodurch Individuen das Gefühl erfahren, im Leben dahinzutreiben und dieses weniger wahrzunehmen.


Diese Kontrollverluste bedeuten Kontrollgewinne für die kapitalistische Wirtschaftspraxis. Die demokratischen Institutionen würden somit immer weniger Kontrollchancen über ökonomische Entwicklungen haben. Heitmeyer sieht in diesen Kontrollverlusten die Tatsache, dass „die materiale Substanz einer liberalen Demokratie keineswegs gesichert ist” (Heitmeyer, 2018, S. 47). Der Kapitalismus führe dazu, dass die nationalstaatliche Politik immer weniger Kontrolle über den Markt und die Gesellschaft habe, was wiederum die Desintegrationsprozesse und die Demokratieentleerung beschleunige.


Das Auftreten von individuellen und gesellschaftlichen Kontrollverlusten werde dabei häufig durch Krisen und Krisenverarbeitung verdeutlicht. Für diese Analyse bezieht Heitmeyer sich auf eine Studie aus seiner Forschung zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, welche den Zeitraum 2002 bis 2011 betrifft (Heitmeyer, 2018, S. 95). Diese bezieht sich insbesondere auf die Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Auswirkungen seit 2008. Sie zeige wachsende Ängste, Kontrollverluste und Orientierungslosigkeit. Dabei gebe es einen deutlichen Zusammenhang zwischen orientierungslosen, hilflosen Einstellungen und autoritären Aggressionen in der Gesellschaft. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich dieser Zusammenhang nicht auf bestimmte Gruppen der Gesellschaft beschränkt, sondern sich in allen gesellschaftlichen Schichten wiederfindet. Parallel zu den Auswirkungen der Krise und den wachsenden autoritären Aggressionen in der Gesellschaft habe außerdem die Solidarität mit schwächeren Gruppen abgenommen. Heitmeyer sieht darin ein Indiz für das starke Eindringen von ökonomisch ausgelösten Krisen in die gesellschaftlichen Integrationsmechanismen, welche große Auswirkungen auf die gesellschaftliche Desintegration haben können.


„Dies ist deshalb besonders bedeutsam, weil sich damit in der Wahrnehmung von gesellschaftlichen Zuständen ein starkes und politisch instrumentalisierbares Misstrauen eingenistet hatte, während zugleich das politische System offenbar nicht in der Lage war, die massiv auftretenden Krisen zu begrenzen, geschweige denn zu lösen - und deswegen von besagtem Misstrauen gleich selbst mit erfasst wurde.” (Heitmeyer, 2018, S. 98)


Neben der Entsolidarisierung, welche in Krisensituationen ausgelöst werde, weil die eigene Benachteiligung stärker wahrgenommen wird, würden ebenfalls Vorurteile gegenüber schwächeren Gruppen sowie Werteverluste wachsen. Dabei sei insbesondere der Zusammenhang mit Einkommen ein Grund für fremdenfeindliche Einstellungen. Die Studie zeige außerdem, dass Menschen, die von Krisen betroffen sind, deutlich höhere Werte für rechtspopulistische Einstellungen aufweisen als Menschen, die nicht von Krisen betroffen sind. Heitmeyer zieht als Fazit der Studie, dass die Kontrolle über die eigene Lebensplanung und Lebensführung durch ökonomische Krisen oder politische Entscheidungen gestört werden kann und dies zu Frustration und Angst führt. Menschen, die eine solche Angst empfinden, nehmen dabei häufig weniger Rücksicht darauf, welche Konsequenzen ihr Handeln für die Gesellschaft hat. Dies führe zu einem feindseligen Klima in der Gesellschaft und sei ein wichtiger Punkt für Mobilisierungen durch autoritäre politische Akteure.


Neben wirtschaftlichen Krisen spielt auch die generelle Landnahme des Kapitalismus in Folge der Demokratieentleerung eine Rolle für Kontrollverluste, insbesondere für soziale Kontrollverluste. Dabei handele es sich um das Phänomen, dass gesellschaftliche Prozesse immer stärker beschleunigt werden und diverse Bereiche des menschlichen Lebens unter einen kapitalgesteuerten Druck geraten. Hier sei eine ökonomische Dominanz in drei Prozessen zu erkennen (Heitmeyer, 2018, S. 126):


1. Die Abwertung von nichtökonomischen institutionellen Funktionen (z.B. mangelnde Anerkennung von Familien)

2. Die Durchsetzung nutzen- und effizienzorientierter Marktlogiken in Sozialisationsinstitutionen (z.B. Schulen)

3. Das Eindringen ökonomischer Regeln in unterschiedliche soziale Bereiche


Heitmeyer bezeichnet dies als eine „Landnahme des Sozialen” (Heitmeyer, 2018, S. 119), welche es vielen Menschen erschwere, am sozialen Leben teilzuhaben. Durch den Kapitalismus würden gesellschaftliche und politische Folgen gleichgültig. In Bezug auf die Finanzkrise würden dabei große Teile der Bevölkerung als Verfügungsmasse zur Stabilisierung des Finanzsystems betrachtet. Der Finanzkapitalismus lebe von der Angst vor einem sozialen Abstieg. Diese sei somit keine unbeabsichtigte Nebenfolge, sondern ein systemisch eingebautes Kontrollinstrument. Für die sozialen Kontrollverluste in der Gesellschaft sei dabei die Beschleunigung entscheidend. Heitmeyer bezieht sich dabei auf Hartmut Rosa (Heitmeyer, 2018, S. 122) und auf dessen Theorie des gemeinsamen Auftretens von Beschleunigung und Unbestimmtheit. Die Beschleunigung wirke sich nach Rosa auf alle sozialen Lebensformen aus, sei strukturbildend für die kapitalistische Gesellschaftsordnung und verstärke das Kontingenzbewusstsein und somit die Angst. Heitmeyer ergänzt seine Theorie um den Faktor der Digitalisierung. Dieser treibe die Beschleunigung weiter voran und könne zu einer Entwertung von erlernten Fähigkeiten führen. Er mache bestimmte Arbeitsplätze überflüssig, was die Angst verstärke, im Arbeitsmarkt bestehen zu können. Obwohl die Auswirkungen der Digitalisierung noch nicht vollständig zu erkennen seien, sieht Heitmeyer als Fazit seiner Analyse eine Angst im Wohlstand (Heitmeyer, 2018, S. 124). Auch wenn der Lebensstandard nicht zwingend niedrig ist, sei das Leben dennoch häufig von Abstiegsängsten geprägt. Dies könne zu einer Flucht in die vermeintliche Sicherheit führen, durch eine „Reklamation von Etablierungsrechten und Absicherung gegen die angebliche Konkurrenz durch neu hinzukommende Migranten oder Flüchtlinge” (Heitmeyer, 2018, S. 124). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit würde außerdem dadurch verstärkt, dass Konkurrenz als allgemeingültiges Prinzip in die Gesellschaft institutionalisiert werde und der Wettbewerbsmechanismus sich auf alle sozialen Bereiche ausdehne.


„Auf der Ebene der Individuen findet diese ihren Ausdruck in ökonomistischen Einstellungen: Das heißt, soziale Beziehungen, Verhältnisse zu fremden Gruppen etc. werden ausschließlich nach ihrer Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz bewertet.” (Heitmeyer, 2018, S. 130)


Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nach der Theorie von Wilhelm Heitmeyer gefühlte und echte Kontrollverluste in der modernen kapitalistischen Gesellschaft entstehen, die Fremdenfeindlichkeit fördern und von autoritärer Politik instrumentalisiert werden können. Diese Kontrollverluste entstehen zum einen durch gesellschaftliche Desintegrationsprozesse. Durch die Desintegration fehle es in der Gesellschaft an Anerkennung auf positionaler, moralischer und emotionaler Ebene. Die fehlende Anerkennung und damit einhergehende wachsende Unsicherheit können zu einem Streben nach Sicherheit und Kontrolle durch autoritäre Politik führen. Zum anderen entstehen Kontrollverluste durch eine Demokratieentleerung. Diese ergebe sich durch die wachsende Machtlosigkeit von Demokratien im Gegensatz zum kapitalistischen System. Auch dadurch wachse in der Bevölkerung das Gefühl von Machtlosigkeit und Entfremdung. Das Gefühl, nicht mehr politisch vertreten zu werden und die dadurch entstehende Unzufriedenheit äußere sich häufig in der Diskriminierung von sozial schwächeren Gruppen. Diese Kontrollverluste fänden auf sozialen, politischen und persönlichen Ebenen statt und betreffen alle gesellschaftlichen Schichten. Dadurch wachsen autoritäre Versuchungen, während autoritäre Politik diese Kontrollverluste instrumentalisiert und ein Wiedererlangen der Kontrolle und Sicherheit verspricht.


3. Integrationspolitik in Schweden


Schweden gilt im internationalen Vergleich als Vorbild eines weltoffenen, liberalen Landes, wobei insbesondere das Sozialsystem des skandinavischen Wohlfahrtsstaates im Vordergrund steht. Umfangreiche Sozialleistungen sollen vorbeugend einen sozialen Abstieg verhindern. Dabei zeichnet sich Schweden vornehmlich durch ein striktes Sicherungsnetz des Sozialsystems und ausgeprägte staatliche Einrichtungen aus und verzeichnet eine flächendeckende soziale Versorgung und Solidarität, sowie eine niedrige Arbeitslosenrate. Diese liegt 2023 bei 7,8%, ist jedoch aufgrund der Covid19- Pandemie stark angestiegen (IMF, Statista, 2023). Schweden gilt außerdem als eines der Länder mit der weltweit weitestgehenden umgesetzten Gleichstellung von Männern und Frauen.

Das Land hat große Vorkommen an Rohstoffen und exportiert diese größtenteils in die europäische Union und nach Nordamerika. Es gehört zu den führenden Industrienationen der Welt und betreibt als Land mit einem reichen Waldvorkommen eine ausgeprägte Land- und Forstwirtschaft. Mit ca. 10 Millionen Einwohnern hat Schweden 2023 ein Bruttoinlandsprodukt von 599 Milliarden USD (IMF, Statista, 2023) erwirtschaftet.


Schweden hat eine parlamentarische Monarchie, in welcher der König ausschließlich repräsentative Aufgaben wahrnimmt und nicht an politischen Entscheidungen mitwirkt. König Schwedens ist seit 1973 Carl XVI. Gustaf. Das Land verfügt über eine Zentralverwaltung. Im Parlament, dem Reichstag (schwed. Riksdag), welcher alle vier Jahre neu gewählt wird, sind acht Parteien vertreten. Schweden ist in 21 Provinzen aufgeteilt, in welchen Regierungspräsidenten tätig sind, die von der Regierung bestimmt werden. Das Land ist Mitglied der EU, der Vereinten Nationen und des Nordischen Rates. Infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine hat Schweden 2022 den Beitritt in die NATO beantragt. Nach der Parlamentswahl im September 2022 löste der rechte Block den bisher regierenden linken Block ab, welcher erstmals von der Partei der Schwedendemokraten unterstützt wird, welche als rechtspopulistisch gilt. Die Regierung unter dem Ministerpräsidenten Ulf Kristersson (Parteichef der Moderaten) besteht aus den Koalitionsparteien die Moderaten (schwed. Moderata samlingspartiet), die Christdemokraten (schwed. Kristdemokraterna) und die Liberalen (schwed. Liberalerna), welche sich auf die Schwedendemokraten (schwed. Sverigedemokraterna) stützen.


Im Fokus dieser Arbeit steht die Integrationspolitik Schwedens. Im „Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache” ist die Integrationspolitik folgendermaßen definiert: „politisches Handeln die Eingliederung von Personen oder Bevölkerungsgruppen betreffend, die sich durch ihre soziale Lage, ethnische Zugehörigkeit, sprachliche, religiöse oder sonst randständige Situation von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden” (DWDS, 2020). Auch wenn keine einheitliche wissenschaftliche Definition für den Begriff der Integration besteht, wird grundsätzlich zwischen der kulturellen, der strukturellen, der sozialen und der emotionalen Integration unterschieden. Diese Unterscheidung stammt von dem Soziologen Hartmut Esser, welcher in einem Zusammenwirken dieser Formen der Integration eine gelungene gesamtgesellschaftliche Integration sieht (Koch, 2018). Bei der kulturellen Integration handelt es sich um Maßnahmen, welche sich auf das Übernehmen von länderspezifischen Fertigkeiten und Wissen beziehen. Somit fallen zum Beispiel Sprachkurse in diesen Bereich der Integration. Die strukturelle Integration bezieht sich insbesondere auf die Integration in den Arbeitsmarkt, sowie auf das Erlangen von Rechten und politischen und sozialen Positionen, während sich die soziale Integration auf soziale Netzwerke bezieht. Die vierte Form der Integration, die emotionale Integration, beinhaltet die Bildung über und die Übernahme von kulturellen Aspekten des Landes wie zum Beispiel Werthaltungen, Lebensweisen und moralischen Vorstellungen. In Bezug auf die Maßnahmen in der Integrationspolitik ist dabei auf die Gründe der Migration zu achten, da es für die Wahrnehmung der Integrationsangebote einen Unterschied macht, ob die Einwanderung in das Land freiwillig oder unfreiwillig stattgefunden hat. Grundsätzlich wird die Integrationspolitik national geführt. Es gibt in der EU keine länderübergreifenden Regeln, welche die Integrationspolitik betreffen. Mitgliedstaaten der EU werden jedoch mit Fördermitteln unterstützt, sowie mit einem Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über das europäische Integrationsnetzwerk. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Europäische Kommission entwickelten dafür 2018 einen Bericht über 74 Indikatoren, anhand welcher der Stand der Integration von Zugewanderten beurteilt und verglichen werden kann. Diese Indikatoren beinhalten sowohl die kulturelle, die strukturelle, die soziale als auch die emotionale Integration. Sie betreffen unter anderem die Integration in den Arbeitsmarkt, die Wohnverhältnisse und das bürgerliche Engagement der Migranten.

3.1 Geschichtlicher Hintergrund


Die schwedische Integrationspolitik galt lange Zeit als Vorbild für die gesellschaftliche Integration von Migranten. Nach dem zweiten Weltkrieg war diese stark sozialdemokratisch geprägt. Alle Einwanderer, welche einen dauerhaften Aufenthaltsstatus nachweisen konnten, erhielten grundlegende soziale und politische Rechte. Diese Form der Politik funktionierte zu Beginn, obwohl sie kostenaufwendig für das Land war. Einwanderer mussten ein reguläres Arbeitsverhältnis nachweisen können, wobei es kein Problem darstellte, Arbeitsstellen zu finden. Aufgrund der sich stark verschlechternden Wohn- und Arbeitsbedingungen der Migranten wurde 1972 die unbegrenzte Einwanderung beendet (IfDem, 2016, S. 146). Eine Möglichkeit zur Verbesserung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse wurde in der Verstärkung der Integration sowie der Verringerung von niedrig qualifizierten Arbeitskräften gesehen. Die erste wirkliche Einwanderungs- und Minderheitenpolitik wurde 1975 in Kraft gesetzt und richtete sich nach den drei Grundsätzen der Gleichheit, Wahlfreiheit und Partnerschaft. Die schwedische Politik legte dabei großen Wert darauf, dass Einwanderer die Möglichkeit hatten, an ihrer Kultur festhalten zu können. Kinder hatten zum Beispiel die Möglichkeit, ihre Muttersprache als Schulfach in der Schule unterrichtet zu bekommen. Mitte der 1980er Jahre wurde die Zuständigkeit für Geflüchtete von der Arbeitsmarktbehörde auf die Einwanderungsbehörde und die einzelnen Kommunen gelegt. Damit wurde der Fokus auf die Sozialpolitik gerichtet anstatt auf die Arbeitsmarktpolitik, welche dadurch in den Hintergrund geriet. Zu Beginn der 1990er Jahre erlitt Schweden eine Rezession und die Arbeitslosenrate stieg stark an, welche insbesondere die Migranten in Schweden traf. Dies wirkte sich auf politische Solidarität aus, sowie auf die gesellschaftliche Einstellung gegenüber den Migranten, was zu einer Verschärfung der Einwanderungskontrolle führte. Die Integrationspolitik änderte außerdem den bisherigen multikulturellen Ansatz der Integration und fokussierte sich mehr auf das Ziel einer einheitlichen Gesellschaft. 1998 wurde die Integrationsbehörde gegründet. Diese wurde 2007 wieder abgeschafft und ihre Aufgaben auf die Migrationsbehörde, die Behörde für Jugendangelegenheiten und das statistische Zentralamt verteilt. Seit 2014 gibt es in Schweden ebenfalls keinen Integrationsminister mehr, wodurch die Aufgaben der Integrationspolitik in den Verantwortungsbereich der gesamten Regierung fallen. Grundsätzlich fokussiert sich die schwedische Politik heute auf die Integration in den Arbeitsmarkt und unterstützt dies hauptsächlich mit Ausbildungsprogrammen und einer aktiven Arbeitsvermittlung.


Schweden entwickelte sich bereits während des zweiten Weltkrieges zu einem Einwanderungsland. Ca. 180.000 Menschen, größtenteils aus Europa, kamen während des Krieges nach Schweden. Seitdem wuchs Schwedens Bedeutung als Einwanderungsland und nahm 2014, gemessen an der Bevölkerungsgröße, innerhalb Europas die meisten Menschen auf. Das Land war und ist neben Schutzsuchenden und Menschen, welche ihr Heimatland unfreiwillig verlassen haben, auch für arbeitssuchende Migranten, aufgrund des liberalen Systems für Erwerbsmigration, sehr attraktiv. Der im Ausland geborene Teil der schwedischen Bevölkerung ist daher auffallend heterogen. 2021 stammte ein Großteil der Migranten in Schweden mit 95.000 Menschen aus Syrien (Eurostat, Statista, 2022), darauf folgten Polen und Afghanistan. Ein bedeutender Teil der Migranten kommt, größtenteils als Arbeitskräfte, aus Finnland, Norwegen und Dänemark nach Schweden. Aber auch diverse andere Herkunftsländer sind innerhalb Schwedens vertreten. Bis in die 2000er Jahre stieg die Anzahl an Menschen mit Migrationshintergrund und lag zwischendurch bei 20% der Gesamtbevölkerung. Die Zahl an Menschen, welche jährlich nach Schweden einwanderten, stieg bis in die 2010er Jahre an und erreichte 2015 und 2016 infolge der Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt (Abbildung 2).


Abbildung 2: Migrationssaldo nach Anzahl der Einwanderungen und Auswanderungen für Schweden von 1998 bis 2021, Eurostat, Statista, 2023


Wie an der Abbildung 2 zu erkennen ist, ist die Anzahl an Personen, die jährlich nach Schweden einwandern, nach 2016 stark gesunken. Dies ist auf einen Kurswechsel in der schwedischen Regierung zurückzuführen. Dieser Kurswechsel hat mehrere Ursachen, welche unter anderem auch die Integrationspolitik betreffen. Der folgende Teil der Arbeit stellt einen Überblick über diese und ihre Auswirkungen dar.


3.2 Die Integrationspolitik und ihre Auswirkungen


In Bezug auf die Integration in den Arbeitsmarkt ist festzustellen, dass die Arbeitslosenquote von Menschen mit Migrationshintergrund in Schweden bedeutend höher ist als bei Menschen ohne Migrationshintergrund (Schröder, 2009, S. 40). Dabei ist der Unterschied bei Migranten am stärksten, welche erst eine kurze Zeit in Schweden leben. Er ist aber auch bei Migranten deutlich bemerkbar, die dauerhaft im Land bleiben. Dabei weisen Menschen mit Migrationshintergrund unabhängig von dem Niveau der Ausbildung eine höhere Arbeitslosenquote auf. Bei einer Arbeitskräfteerhebung 2021 wurde festgestellt, dass die Arbeitslosenquote bei Personen, die im Ausland geboren wurden bei 20 Prozent, während die bei in Schweden Geborenen bei 4,6 Prozent liegt (Ranko, et al., 2022, S.3). Dies ist unter anderem auf die nicht ausreichenden Kenntnisse der Sprache zurückzuführen. Diese hindern den Aufbau eines Netzwerkes und dadurch den Zugang zu Arbeitsverhältnissen. Dabei lässt sich feststellen, dass die angebotenen Sprachkurse, welche ein Teil der schwedischen Einführungsprogramme darstellen, nicht die gewünschte Wirkung haben. Nur ein Drittel der Teilnehmenden weist demnach nach zwei Jahren für den Arbeitsmarkt ausreichende Sprachkenntnisse auf (Schröder, 2009, S.42). Insbesondere die Sprachkurse, welche in der Schule angeboten werden, stehen in der Kritik, zu wenig mit der Arbeitspraxis kombiniert zu werden. Ebenso haben die generellen Einführungsprogramme für Migranten weniger positive Auswirkungen als erwartet. Die zweijährigen Einführungsprogramme sind in der Regel verpflichtend für Menschen, welche unbefristet in Schweden bleiben wollen. Zu ihnen gehören Sprachkurse, Integrationskurse, Praktika, Probeanstellungen und die unterstützte Arbeitssuche. Im Zeitraum der Integrationskurse erhalten Migranten eine finanzielle Unterstützung von ca. 33 Euro pro Tag (Parusel, 2016, S. 6). Dennoch finden viele Migranten nach Abschluss der Einführungsprogramme keine Arbeit. Dies liegt unter anderem auch an der zu geringen individuellen Betreuung. Ein weiteres Problem bei der Arbeitssuche stellt die Tatsache dar, dass die Anerkennung für ausländische Studien- und Ausbildungsabschlüsse in Schweden aufwändig und langwierig sind, weshalb viele Menschen zunächst darauf angewiesen sind, ohne einen anerkannten Abschluss eine Arbeit zu finden. Auffällig ist ebenfalls, dass Diskriminierung, ausgehend von den Arbeitsgebern, hinderlich bei der Arbeitssuche ist (Schröder, 2009, S. 42). Dabei ist die Antidiskrimierungspolitik ein wichtiger Teil der schwedischen Integrationspolitik. 2009 trat ein neues Antidiskriminierungsgesetz in Kraft und mit diesem eine Behörde, welche gegen Diskriminierung am Arbeitsplatz vorgeht. Diese geriet jedoch insbesondere zu Beginn in Kritik, da sie wenig Wirkung zeigte und vielen Diskriminierungsvorwürfen nicht systematisch nachgegangen wurde. In Bezug auf die Integrationspolitik ist jedoch anzumerken, dass das schwedische Staatsangehörigkeitsrecht eines der liberalsten Europas ist (IfDem, 2016, S. 163). 2001 wurde in Schweden ein neues Staatsangehörigkeitsrecht verabschiedet, welches die Einbürgerung von Migranten erleichtert und die doppelte Staatsangehörigkeit ermöglicht. Die schwedische Staatsbürgerschaft kann demnach nach fünf Jahren beantragt werden, von Einwanderern aus den nordischen Ländern (Norwegen, Island, Dänemark, und Finnland) bereits nach zwei Jahren Aufenthalt in Schweden. Kinder, welche ein Elternteil mit schwedischer Staatsbürgerschaft haben, erhalten seit 2001 automatisch die Staatsbürgerschaft. Für das Erhalten der Staatsbürgerschaft müssen dabei keine Sprachtests bestanden werden und es gibt auch keine anderen kulturellen oder ökonomischen Voraussetzungen, welche nötig sind, um schwedischer Staatsbürger zu werden. Asylbewerber, welche als Schutzsuchende nach Schweden kommen, erhielten bis 2015 eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Außerdem war die Erlaubnis für den Familiennachzug von Flüchtlingen sehr großzügig geregelt. In Bezug auf die Wohnsituationen von Einwanderern betreibt Schweden eine sogenannte „GanzSchweden-Politik" (IfDem, 2016, S. 165). Dabei bemühen sich die einzelnen Provinzen, die Wohnorte der Einwanderer gleichmäßig auf das Land zu verteilen, um der Konzentration von Einwanderern, insbesondere in den Vororten der Großstädte, entgegenzuwirken. Kleinstädte in Nord- und Mittelschweden sind besonders stark von Überalterung betroffen, weshalb die Ansiedlung für Migranten dort verstärkt organisiert wird. Hierbei ergibt sich jedoch das Problem, dass in den ländlichen Regionen das Angebot für Arbeitsplätze und Beschäftigungsmöglichkeiten geringer ist als in den größeren Städten. Viele Migranten ziehen daher selbstständig in Ballungsräume, in denen sie leichter Arbeit finden. Dort ist jedoch die Konkurrenz um günstige Wohnungen viel größer; hohe Mieten stellen in Schweden allgemein ein Problem dar. Migranten werden dadurch häufig verdrängt und leiden dauerhaft unter schlechteren Wohnsituationen als der Rest der Bevölkerung. Ein weiterer Aspekt der Integrationspolitik ist die politische Integration in eine Gesellschaft, welche in den Bereich der strukturellen Integration fällt. In Bezug darauf hat Schweden sehr liberale Partizipationsrechte. Seit 1975 haben Migranten, die in Schweden leben, passives und aktives Wahlrecht und können somit an kommunalen und regionalen Wahlen teilnehmen (Parusel, 2015, S. 8). Migranten, welche von außerhalb der EU nach Schweden einwandern, erhalten das Wahlrecht nach drei Jahren Aufenthalt im Land. Dennoch ist festzustellen, dass die Wahlbeteiligung in den Vororten der Ballungsräume, in welchen ein Großteil der Migranten wohnt, geringer ist als bei der restlichen Bevölkerung. Bei der Reichstagswahl 2014 lag die Wahlbeteiligung in den Vororten nur bei 66 Prozent, landesweit bei 84 Prozent (IfDem, 2016, S. 166). In Schweden engagieren sich jedoch verschiedene Kampagnen und Organisationen für eine Erhöhung der Wahlbeteiligung in den Vororten, die auf unterschiedliche Arten versuchen, die Bürger dazu zu animieren, wählen zu gehen. Außerdem wird die politische Partizipation in den Einführungsprogrammen für Migranten thematisiert und die Menschen werden über ihre Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt. Ein weiteres Problem, welches der Integrationspolitik zugeschrieben wird, ist die steigende Kriminalität in Schweden. Die Anzahl der Morde mit Schusswaffen hat sich in Schweden zwischen den Jahren 2010 und 2019 verdoppelt (Ranko, et al., 2022, S. 5). Die Opfer sind dabei häufig innerhalb migrantisch geprägter Bandenmilieus zu finden. Bandenkriminalität hat innerhalb Schwedens ebenfalls zugenommen und wird häufig als Argument gegen die liberale Einwanderungspolitik verwendet. Im Ausland geborene Menschen treten als Verdächtige in der Kriminalitätsstatistik zweieinhalbmal so häufig auf, wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Menschen mit Migrationshintergrund aus der zweiten Generation treten dreimal so häufig auf (Ranko, et al., 2022, S.5). Die Kriminalität ist in sozial benachteiligten Gebieten besonders hoch. Dabei steigt die Sorge, dass der Einstieg in kriminelle Milieus immer häufiger als „Sozialisierung” gesehen wird und wachsende Vorurteile gegenüber Migranten zu einer Polarisierung der Gesellschaft führen könnten.


Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in Schweden die Integration von Migranten mit politischen und rechtlichen Mitteln gezielt gefördert wird und die schwedische Integrationspolitik daher auch lange als Vorbild innerhalb Europas galt. Dennoch führen nicht alle Maßnahmen der schwedischen Integrationspolitik zu den gewünschten Ergebnissen. Insbesondere die hohe Kriminalität und Arbeitslosenrate unter Migranten wird den gescheiterten Maßnahmen der Integrationspolitik zugesprochen. Für eine gelungene Integration sind sowohl die Einwanderer als auch die Mehrheitsgesellschaft verantwortlich. Nur wenn diejenigen, die in das Land einwandern, die Angebote der Integrationspolitik wahrnehmen, und diejenigen, welche bereits in dem Land leben, Migranten aufnehmen und integrieren, kann die Integration optimiert werden. Damit dies möglich wird, müssen soziale Brücken geschaffen werden, welche über den eigenen kulturellen und sozialen Hintergrund hinaus gehen und gegenseitige Integration fördern. Gesellschaftliche Unterschiede, wie der Wohnort, die Arbeitssituation oder die soziale Interaktion zwischen der Bevölkerung und Migranten sollten daher so gering wie möglich gehalten werden. Diese werden jedoch durch die nicht gelingende Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt, sowie die schlechten Wohnsituationen verstärkt, was der gesellschaftlichen Integration entgegenwirkt und den Spalt zwischen Migranten und der Bevölkerung vergrößert. Dieser Spalt ist in der schwedischen Gesellschaft bemerkbar und führte unter anderem zu einem Kurswechsel in der Politik, welcher starke Auswirkungen auf die Einwanderungs- und Integrationspolitik hatte. Auf den gesellschaftlichen und politischen Wandel, insbesondere nach 2015, in Zusammenhang mit der Integrationspolitik, wird im folgenden Abschnitt eingegangen.


4. Politischer und Gesellschaftlicher Wandel in Schweden


Politischer und gesellschaftlicher Wandel ist ein Begriff, der vieles umfasst und vage definiert werden kann. Er muss daher für den Umfang dieser Arbeit eingegrenzt und beschränkt werden. Diese Arbeit beschäftigt sich damit, in welchem Umfang die schwedische Integrationspolitik und ihre teilweise gescheiterten Maßnahmen Auswirkungen auf die Politik und die Gesellschaft haben. Mit dem politischen Wandel ist konkret das Auftreten und der Erfolg von rechten Bewegungen gemeint, welche sich gegen eine liberale Einwanderungs- und Integrationspolitik stellen. Für die Analyse des politischen und gesellschaftlichen Wandels bedeutet das, dass die Arbeit sich auf die gesellschaftliche Stimmung in Bezug auf die Integration von Migranten in Schweden bezieht. Sie betrachtet zum einen das Wahlverhalten der schwedischen Bevölkerung, die Einschätzung der Bevölkerung zur Integrationspolitik und die Aufnahmebereitschaft gegenüber Menschen, die nach Schweden einwandern. Zum anderen betrachtet die Arbeit das Aufkommen neuer politischer Bewegungen und deren Erfolge, sowie die sich ändernde Einwanderungs- und Integrationspolitik. Dabei bezieht sie sich insbesondere auf den Kurswechsel in der schwedischen Politik, welcher 2015 stattfand. Daraufhin wird dieser Wandel in einen Zusammenhang mit der Integrationspolitik gebracht und untersucht, inwiefern der Wandel auf diese zurückzuführen ist.


Schweden gilt als einer der ersten Wohlfahrtsstaaten weltweit. Das Land erklärte im zweiten (ebenso wie im ersten) Weltkrieg seine Neutralität, unterstützte jedoch nach der deutschen Besetzung Finnlands Deutschland mit Transporten an die finnisch-sowjetische Front und ermöglichte Erzlieferungen an Deutschland für dessen Kriegsproduktion. Während und nach dem Krieg kamen viele Kriegsflüchtlinge nach Schweden, darunter auch Verfolgte aus Deutschland. 1946 trat Schweden der UNO bei. In dieser Zeit wurden eine allgemeine Krankenversicherung, Kindergeld und andere Reformen eingeführt. Schwedens Wirtschaft erholte sich von den Kriegsjahren, bis Schweden in den 60er Jahren die höchsten Lebensstandards weltweit zu verzeichnen schien. Durch mehrere Krisen in den 70er Jahren geriet Schweden jedoch wieder in wirtschaftliche Schwierigkeiten, worunter das soziale System stark litt. 1990 beantragte Schweden die Mitgliedschaft in der EU und trat dieser 1995 bei. Nach dem zweiten Weltkrieg stiegen die Asylanträge in Schweden konstant weiter, bis in den 1980er Jahren eine Politisierung der Asylproblematik zu erkennen war (IfDem, 2016, S. 151). Dabei kamen zum ersten Mal nennenswerte Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen auf. 1991 zog erstmalig eine rechtspopulistische Partei in den Reichstag ein. Diese war nur eine Legislaturperiode an der Regierung beteiligt, brachte jedoch der Debatte um die Migrations- und Integrationspolitik viel mediale Aufmerksamkeit. Diese Tatsache, sowie ein starker Anstieg der Einwanderung infolge der Balkankriege, führte zu einer wachsenden Ablehnung der sozialen Asylpolitik in der Bevölkerung. Nachdem diese nach 1992 wieder abnahm, stieg die Diskussion um die Migrationspolitik 2002 wieder an und mit ihr die Ablehnung gegenüber Flüchtlingen. Die liberale Volkspartei forderte während des Wahlkampfes 2002 Sprachtests für die Einbürgerung von Einwanderern und hatte damit große Erfolge. Ebenfalls thematisiert wurde die hohe Arbeitslosigkeit von Migranten, welche den Erfolg der Integrationspolitik in Frage stellte und Unruhe in der Bevölkerung auslöste. Seitdem ist die Frage um die Migrations- und Integrationspolitik in Schweden ein viel diskutiertes und umstrittenes Thema in der Bevölkerung und dauerhaft im politischen Diskurs vertreten. Dabei stehen grundsätzlich die hohe Arbeitslosigkeit von Migranten sowie die hohe Kriminalitätsrate im Fokus. Die Versäumnisse der schwedischen Integrationspolitik waren bereits vor der Flüchtlingskrise 2015 ein stark thematisiertes Problem. Dies auch, als es 2013 in den Vororten der Großstädte, welche größtenteils von Migranten bewohnt sind, vermehrt zu Brandanschlägen und Ausschreitungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund kam. Dabei steht bis heute häufig in der Kritik, dass die Vororte der Großstädte gesellschaftlich und kulturell von dem Rest der Bevölkerung abgetrennt sind.


Abbildung 3: Main Priorities of the EP, European Parliament, 2021


Wie die Abbildung 3 zeigt, ist die Sorge um die Migration in Schweden heute bedeutend höher als in anderen Ländern der Europäischen Union. Nach einer Umfrage des Europäischen Parlamentes waren die größten Ängste in der schwedischen Bevölkerung 2021 nach dem Schutz des Klimas die Kriminalität und die Migration. Dabei ist die Sorge um die Migration doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Europäischen Union. Die Umfrage verdeutlicht, welche Auswirkungen die steigende Kriminalität auf die Einstellung der Bevölkerung hat und welche Sorgen diese in der Gesellschaft auslöst. Die Ergebnisse der Umfrage erklären auch, warum die Partei der Schwedendemokraten in den letzten Jahren immer mehr Stimmen gewinnt und dadurch politisch aufsteigen konnte. Auf die Partei und ihren Erfolg wird im folgenden Abschnitt eingegangen.


4.1 Aufstieg der Schwedendemokraten


Die Schwedendemokraten (schwed. Sverigedemokraterna) ist eine schwedische Partei, die dem rechten Spektrum zugeordnet wird. Sie wurde 1988 gegründet und ging aus der Schwedenpartei (schwed. Sverigepartiet) hervor. Diese entstand wenige Jahre zuvor aus dem Zusammenschluss zweier rechtsextremer Parteien. Nachdem der Vorsitzende der Schwedenpartei, Stefan Herrmann, aus dieser ausgeschlossen wurde und mit ihm ein Großteil der Mitglieder die Partei verließen, gründete sich der verbleibende Teil als die Schwedendemokraten neu. Die Schwedendemokaten haben ihren Ursprung in der rechtsextremen Szene, versuchen dieser aber aktiv entgegenzuarbeiten. Der aktuelle Vorsitzende der Schwedendemokraten, Jimmie Åkesson, welcher das Amt seit 2005 bestreitet, war zunächst Mitglied der konservativen Moderaten Sammlungspartei. Die Partei bestreitet ihren Ruf als rechtspopulistische Partei und präsentiert sich im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit anderen Parteien gemäßigter als zu Beginn. In ihren Anfangsjahren hatten die Schwedendemokraten nur einen geringen politischen Erfolg. Bei der Wahl 2002 erhielt die Partei 1,4 Prozent der Stimmen (Bauer, 2010, S. 4), was jedoch deutlich mehr war als in den Jahren zuvor. In den Folgejahren erreichte die Partei in einigen Provinzen die Vier-Prozent-Hürde und ist seit 2010 im schwedischen Reichstag vertreten. Seitdem hat sie kontinuierlich an Stimmen gewonnen. Mit der letzten Wahl im September 2022 löste der rechte Block den bisher regierenden linken Block ab. Dieser bildet eine Minderheitsregierung, welche aus den Parteien die Moderaten, die Christdemokraten und die Liberalen besteht. Da diese drei Parteien keine Mehrheit haben, arbeiten sie mit den Schwedendemokraten zusammen, welche als zweitstärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen sind. Die Schwedendemokaten haben damit erstmalig einen Einfluss auf die regierende Koalition und sind damit aktuell auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte als politische Partei.


Die Schwedendemokraten streben nach einer konservativen Wirtschaftspolitik und setzten sich für Steuersenkungen und einen geringeren Einfluss der Politik in die Wirtschaft ein. Sie setzen großen Wert auf den Schutz des schwedischen Wohlfahrstaates und die Erweiterung von sozialen Leistungen für schwedische Bürger. Diese konzentrieren sich insbesondere auf in Schweden geborene Arbeiter und Rentner. Die Partei vertritt konservative Werte, lehnt eine gleichgeschlechtliche Ehe sowie das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare ab und setzt sich für härtere Strafen für Kriminelle und einen Ausbau der Altenfürsorge ein. In Bezug auf die Europäische Union lehnen die Schwedendemokraten diese eher ab und sehen den Einfluss der EU auf die Eigenstaatlichkeit Schwedens als kritisch. Sie lehnen die Einführung des Euros ab und plädieren immer wieder für den Austritt Schwedens aus der EU. Stattdessen sieht die Partei zwischenstaatliche Kooperationen als Option, insbesondere unter den nordischen Ländern. Der politische Fokus der Schwedendemokraten liegt jedoch auf der Einwanderungs- und Integrationspolitik. Dabei führen diese auf, dass die bisherige Integrationspolitik zu großen ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen geführt und hohe Kosten verursacht habe und daher gescheitert sei (Bauer, 2010, S. 4). In einer Einschränkung der Einwanderung sehen die Schwedendemokraten die Möglichkeit für Steuersenkungen, ohne dabei Sozialleistungen für gebürtige Schweden kürzen zu müssen. Die Partei propagiert mit dem Schutz der einheimischen, homogenen Bevölkerung und Kultur und mit der Angst vor der „Islamisierung” des Landes. Sie setzt sich für restriktive Einwanderungsbestimmungen ein, sowie für eine Heimführung von Einwanderern und Asylsuchenden. Dabei berufen sich die Schwedendemokraten auf den Schutz und die Sicherheit der schwedischen Bevölkerung, welche durch eine homogene Kultur gewährleistet werde. In Bezug auf die Kriminalpolitik propagieren die Schwedendemokraten, dass die schwedischen Bürger sich aufgrund der steigenden Kriminalität, welche zu einem bedeutenden Teil von Migranten ausgehe, nicht mehr wohlfühlen würden (Busch, o.D., S. 13). Sie setzen sich für härtere Strafen und eine bessere Versorgung von Opfern der Kriminalität ein, sowie für Entschädigungsgelder für die Opfer. Härtere Strafen konzentrieren sich dabei auf Wiederholungstäter. Die Partei fordert die Einführung einer lebenslangen Gefängnisstrafe. In Bezug auf Migranten möchte die Partei die Möglichkeit eines Entzugs der Staatsbürgerschaft für Migranten einführen, die terroristische Straftaten begangen haben. Sie werben für eine obligatorische Abschiebung von Ausländern, um die Kriminalität zu senken, für ein Bettel-Verbot im gesamten Land, höhere Löhne für die Polizei, sowie eine Gesetzeslockerung, mit welcher die Polizei ihre Waffen auch außerhalb des Dienstes tragen darf. Die Partei distanziert sich von jeglicher Form des Rassismus, führt aber offenkundige Beziehungen zu rechtsextremistischen Organisationen. Sie bemüht sich aktiv darum, den Ruf, welchen sie nach der Gründung schnell erhielt, zu verlieren und stellt sich selbst als konservative Partei dar. Während die Schwedendemokraten vor einigen Jahren noch von allen relevanten Parteien abgelehnt wurden und eine Zusammenarbeit verweigert wurde, ist dies heute nicht mehr der Fall. Sie ist in der Regierung als etablierte Partei akzeptiert und seit letztem Jahr Teil derselben. Die Parteivorsitzende der Christdemokraten, Ebba Bush, äußerte sich in der Hinsicht, dass die Schwedendemokraten unvermeidlich früher oder später eine wichtige Rolle in der schwedischen Regierung spielen werden (Sjölander, 2023, S. 2). Eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten scheint demnach unumgänglich. So sprechen sich immer häufiger schwedische Politiker gegen den schlechten Ruf der Schwedendemokraten aus und verharmlosen die Geschichte der Partei. Johan Pehrson, der Vorsitzende der Liberalen, sagte zum Beispiel in Bezug auf die Schwedendemokraten, dass er sich über rechtsextremistische Wurzeln der Partei nicht sicher sein könne, da er die Anfangsphase der Partei nicht miterlebt habe (Bauer, 2010, S.2). Die Akzeptanz der Schwedendemokraten und anderer rechten Bewegungen ist in Schweden in der Politik und der Bevölkerung zu erkennen. Der rasche Aufstieg der Schwedendemokraten verdeutlicht dies.

Der Erfolg der Schwedendemokraten in den letzten Jahren ist nicht monokausal. Eine Begründung für den Erfolg wird in der Tatsache gesehen, dass die Partei lokal und in den Medien die aktivste Partei ist und den Wahlkampf am stärksten bestritten hat (Wingborg, 2022, S. 2). Sie habe es außerdem geschafft, sich von ihrer rechtsextremistischen Vergangenheit loszusagen und den Ruf einer konservativen Partei durchzusetzen. Entscheidend für das positive Wahlergebnis der Schwedendemokraten war ebenfalls, dass viele Parteien vor der Wahl 2022 erklärt haben, sie würden mit den Schwedendemokraten zusammenarbeiten. So haben sich insbesondere Politiker der konservativen Parteien positiv über das Wahlprogramm der Partei geäußert, wodurch diese auch Wähler in der politischen Mitte gewonnen hat. Die Schwedendemokraten haben eine große Zielgruppe bei Menschen, welche sich von der Politik nicht vertreten und repräsentiert fühlen. Dies ist insbesondere auf dem Land und in Kleinstädten der Fall, wo die Partei bei der Wahl 2022 viele Stimmen gewinnen konnte. Dort war in den letzten Jahren außerdem der Rückgang von Sozialleistungen am deutlichsten zu spüren, was sich positiv auf das Wahlergebnis der Schwedendemokraten ausgewirkt hat. Entscheidend für den Aufstieg der Schwedendemokraten ist auch die strenge Migrationspolitik und die nationalistisch ausgerichtete Wohlfahrtsstaatpolitik. Obwohl es unter den letzten Regierungen bereits viele verschärfende Maßnahmen in der Migrations- und Integrationspolitik gegeben hat, bestätigen mehrere Studien, dass die Mehrzahl der Schweden die Migrationspolitik der Schwedendemokraten unterstützen (Wingborg, 2022, S.2). Während 2014 noch weniger als die Hälfte der schwedischen Bevölkerung den Vorschlag, weniger Flüchtlinge aufzunehmen, zustimmten, ist diese Zahl in den Jahren danach konstant gewachsen. 2016 stimmten bereits 59 Prozent der schwedischen Bevölkerung diesem Vorschlag zu (Ranko, et al., 2022, S. 5). Ein Unterschied zu den anderen Parteien stellt jedoch dar, dass die Schwedendemokraten sich für eine aktive Wiederauswanderung einsetzen.


In Bezug auf die Wähler der Schwedendemokraten haben diese in den ersten Jahren nach der Gründung fast ausschließlich Unterstützung aus rechtsextremistischen Kreisen erhalten. Dies änderte sich mit der aktiven Distanzierung der Partei von einer rechtsextremistischen Politik. Spätestens seit der Wahl in Schweden im Jahr 2010 gewinnt die Partei Stimmen in fast allen gesellschaftlichen und sozialen Gruppen. Dabei ist zu erkennen, dass die Partei insbesondere von jungen Menschen und von Männern gewählt wird. Laut Wahllokalumfragen gewinnen die Schwedendemokraten am meisten Stimmen unter Arbeitern, Landwirten und Unternehmern. 27 Prozent der Mitglieder der LO-Gewerkschaften wählten die Schwedendemokraten (Wingborg, 2022, S. 2). Die LOGewerkschaften ist Schwedens größte Dachorganisation für Gewerkschaften. Verglichen mit der Wahl 2018 profitierten die Schwedendemokraten von Wechselwählern, welche zuvor die Christdemokraten oder die Moderaten gewählt hatten (Wingborg, 2022, S. 2). Die Partei konnte daher insbesondere Stimmen aus dem rechten Spektrum der Bevölkerung gewinnen. Jedoch wählten auch acht Prozent derjenigen die Schwedendemokraten, welche 2018 die Sozialdemokraten gewählt hatten (Wingborg, 2022, S.2). Bei der Wählerschaft der Schwedendemokraten ist eine Polarisierung in der Gesellschaft erkennbar. Diese zeigt sich zum einen an der Geschlechterverteilung. Es wählen deutlich mehr Männer die Partei als Frauen. Zum anderen zeigt sie sich an dem Unterschied zwischen ländlichen Regionen und der Stadt. Die Partei hat auf dem Land erkennbar mehr Wähler gewonnen als in den großen Städten.


Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Migrations- und Integrationspolitik der Schwedendemokraten nicht der alleinige Grund für deren Erfolg ist. Aber sie spielt eine entscheidende Rolle für die Partei. Die Schwedendemokraten und ihre Abneigung gegenüber Ausländern haben in den letzten Jahren zunehmend Akzeptanz und Unterstützung nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Politik, erhalten. Seit 2010 ist die Partei im schwedischen Reichstag vertreten und hat bei der Verschärfung der Migrations- und Integrationspolitik mitgewirkt. Ihre Politik wird zunehmend unterstützt. Dabei dienen die gescheiterten Maßnahmen der bisherigen Integrationspolitik der Partei als Argumentation zu einer Einschränkung der Einwanderung und der Integration. Diese Einschränkung ist deutlich an dem Kurwechsel innerhalb der schwedischen Politik 2015 zu erkennen. Dieser Kurswechsel und dessen Bedeutung für die Migration und Integration in Schweden wird im folgenden Absatz analysiert.


4.2 Kurswechsel 2015


Schweden führte seit den 1970er Jahren eine sehr liberale Einwanderungs- und Integrationspolitik und wurde dadurch international als Einwanderungsland bekannt. Diese richtete sich nach dem Prinzip des Multikulturalismus und beschaffte Zuwanderern zügig gleiche Rechte, einen Zugang zum Arbeitsmarkt, ähnliche Wohnsituationen wie Einheimischen und unbeschränkten Zugang zu den sozialen Leistungen des Staates. Einwanderer erhielten in der Regel eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, zweijährige Einführungsprogramme, das kommunale Wahlrecht und wurden bei der Arbeitssuche unterstützt. Diese Form der Einwanderungs- und Integrationspolitik wurde vom breiten Konsens der Gesellschaft und der Politik getragen und unterstützt. Wie oben beschrieben, war die Integrationspolitik jedoch nicht erfolgreich und erzeugte viele Schwierigkeiten. Indikatoren für die gescheiterte Integrationspolitik waren unter anderem eine hohe Arbeitslosigkeit von Migranten, sowie eine steigende Kriminalität. Dies und die Flüchtlingskrise 2015, welche mit einer wachsenden Anzahl von Asylanträgen einherging und die schwedische Politik stark überforderte, führte zu einem Kurswechsel der schwedischen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Im Herbst 2015 kündigte die damalige rot-grüne Regierung Gesetzesänderungen an, die im Sommer 2016 in Kraft traten. Diese stellten eine starke Änderung der Einwanderungs- und Integrationspolitik dar und wurden einheitlich unterstützt. 2021 wurde in Schweden ein Einwanderungsgesetz verabschiedet, welches die Gesetzesänderungen befestigt und teilweise verschärft (Ranko, et al., 2022, S. 3).


Mit dem Kurswechsel 2015 erhalten Einwanderer in Schweden keine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung mehr. Diese ist jetzt auf ein bis drei Jahre begrenzt. Der Kreis der Familie, welcher in Form des Familiennachzugs einwandern darf, wurde ebenfalls stark eingegrenzt. Neu ist ebenfalls, dass Bedingungen aufgestellt wurden, unter welchen Einwanderer ein unbefristetes Bleiberecht erhalten können. Vor den Gesetzesänderungen mussten Einwanderer nichts nachweisen, um im Land bleiben zu dürfen. Heute brauchen sie einen Nachweis über ein geregeltes Einkommen durch eine Berufstätigkeit, dies gilt ab einem Alter von 18 Jahren, sowie ein bisheriges Bleiberecht für Schweden über drei Jahre (Ranko, et al., 2022, S. 3). Die schwedische Migrationsbehörde überprüft ebenfalls, ob Personen ab 15 Jahren zukünftig dazu neigen könnten, kriminell zu werden. Für diese Begutachtung werden vergangene Straftaten herangezogen, auch Straftaten, die außerhalb Schwedens begangen wurden. Die Gesetzesänderung von 2021 schafft ebenfalls eine Grundlage dafür, dass zukünftig bei der Entscheidung über ein dauerhaftes Bleiberecht auch die Sprachkenntnisse und die landeskundlichen Kenntnisse mit in Betracht gezogen werden. Dies ist aktuell noch nicht der Fall. Diese Voraussetzungen muss jeder Antrag individuell erfüllen. Vor der Gesetzesänderung war es möglich, ein Bleiberecht allein durch eine Familienzugehörigkeit zu erhalten. In Bezug auf die Staatsangehörigkeit ist es nur noch möglich, diese zu erhalten, wenn der Bewerber bereits ein unbefristetes Bleiberecht nachweisen kann und mindestens fünf Jahre ohne Unterbrechung in Schweden gelebt hat. Neu ist ebenfalls, dass abgelehnte Asylbewerber keine finanzielle Unterstützung sowie keine vom Staat gestellte Unterkunft mehr erhalten. Die Gesetzesänderungen enthalten ebenfalls eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Wie an der Abbildung 1 zu erkennen ist, ist die Zahl der Einwanderer nach dem Jahr 2016 stark gesunken. Dies ist auch auf die Gesetzesänderungen zurückzuführen, durch welche deutlich weniger Asylanträge bestätigt werden. Die Asylanträge selbst sind jedoch mit den Gesetzesänderungen ebenfalls gesunken, da Schweden stark an Attraktivität als Einwanderungsland verloren hat (Ranko, et al., 2022, S. 4).


Obwohl die Schwedendemokraten 2015 bereits in der Regierung vertreten waren, ging der Kurswechsel von der damaligen Rot-Grünen Regierung aus, die aus den Parteien die Sozialdemokraten und die Grünen bestand. Dieser Kurswechsel zeigt, dass der Diskurs um die negativen Ergebnisse der Integrationspolitik in eine politische Mitte gerückt ist, wodurch er für alle Parteien zugängig wird. Der Kurswechsel wurde 2015 von einem breiten Konsens der Parteien getragen. Das Meinungsbild um eine restriktive Einwanderungspolitik ist somit nicht mehr ausschließlich Thema der rechten Parteien, sondern spätestens seit 2015 ein Thema, welches mehrere politische Parteien umgreift. Dabei befasst sich der politische Diskurs heute nicht mehr mit der Frage, ob Probleme in der Integrationspolitik bestehen oder nicht, sondern diese Probleme werden vorausgesetzt (Ranko, et al., 2022, S. 6). Der Erfolg der Schwedendemokraten in der vergangenen Wahl 2022 und der Regierung, welche nun aus dem rechten Block gebildet wird, lässt auf einen Erfolg des Kurswechsels schließen. Nachdem die Maßnahmen 2021 bereits verfestigt wurden, verfolgt die aktuelle Regierung diesen Kurs der absolut restriktiven Einwanderungs- und Integrationspolitik nun weiter. Dabei geht es insbesondere darum, die vermeintlichen Fehler der vergangenen Einwanderungs- und Integrationspolitik nicht zu wiederholen.


5. Anwendung der Theorie am Beispiel Schwedens


Im breiten politischen Diskurs wurde in den letzten Jahren der Fokus darauf erhöht, zwischen den Begriffen „Flüchtling” und „Migrant” zu unterscheiden. Auch wenn die Unterscheidung in der Praxis nicht selbstverständlich ist, sind Flüchtlinge grundsätzlich Menschen, die in einem anderen Land Schutz suchen, da sie im eigenen Land direkt bedroht sind, während Migranten in andere Länder einwandern, mit dem Ziel einer sozio-ökonomischen Verbesserung des eigenen Lebens. Obwohl die Globalisierung nicht der einzige Grund für eine weltweit steigende Zahl von Migranten ist (Morazán, et al. 2017), hat sie dennoch einen starken Einfluss auf migrantische Bewegungen. Gründe für wachsende Migration sind unter anderem Faktoren in den Herkunftsländern wie Diskriminierung, Armut oder schlechte Arbeitsbedingungen. Dazu stoßen Faktoren in den Zielländern wie höhere Löhne und die Suche nach saisonalen oder dauerhaften Arbeitskräften. Die Globalisierung hat diese Faktoren vertieft. Sie hat zu einer Einkommenspolarisierung in allen Ländern geführt und die Einkommensdifferenz zwischen den Ländern des globalen Nordens und des globalen Südens vertieft. Die weltweite Vermögensungleichheit ist ebenfalls angestiegen. Die wachsende Mobilisierung, bessere Reisemöglichkeiten und die Verbreitung von bestimmten Lebensstilen sind ebenfalls Auswirkungen der Globalisierung, die zu wachsenden migrantischen Bewegungen führen (Morazán, et al. 2017).


Während Heitmeyer in der Globalisierung den Grund für gesellschaftliche Kontrollverluste und wachsende Fremdenfeindlichkeit sieht, gehen mit dieser wachsende migrantische Bewegungen einher. Diese verlangen nach einer gelungenen Integrationspolitik, damit neue Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt integriert werden können und die Migration in ein Land flächendeckend funktioniert. Schwedens Integrationspolitik ist in einigen Aspekten gescheitert und daher sehr umstritten. Aufbauend auf Heitmeyers These stellt sich die Frage, ob die schwedische Integrationspolitik gesellschaftliche Kontrollverluste erzeugt hat, welche zu einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit und zu einem Aufkommen von autoritären Bewegungen geführt hat.


5.1 Desintegrationsprozesse in Schweden


Für die Analyse von auftretenden Desintegrationsprozessen und Desintegrationsängsten bezieht Heitmeyer sich auf die drei Dimensionen, in welchen Desintegration auftreten können (Abbildung 1). Diese sind die sozialstrukturelle, die institutionell-partizipatorische und die personale Dimension. Die für Deutschland durchgeführte Forschung Heitmeyers konzentriert sich insbesondere auf in der Bevölkerung vorhandene negative Zukunftserwartungen der eigenen wirtschaftlichen und finanziellen Situation, der Angst vor Arbeitslosigkeit, dem Gefühl, an politischem Einfluss zu verlieren oder diesen gar nicht mehr zu haben und das Empfinden, Schwierigkeiten im sozialen Umfeld zu haben und immer schwerer Freunde zu finden (Heitmeyer, 2018, S. 151). Heitmeyer sieht als Ergebnis der Forschung in Deutschland eine wachsende Desintegration der Individuen, einen gleichbleibend hohen Anteil an Menschen mit Zukunftsängsten und dem Gefühl politischer Einflusslosigkeit und mit 70 Prozent der Bevölkerung einen Anstieg an Menschen, die Schwierigkeiten haben, soziale Beziehungen zu knüpfen und unter dem Mangel an Unterstützung und emotionaler Anerkennung leiden (Heitmeyer, 2018, S. 154). Heitmeyer sieht in diesen Ergebnissen und in allen drei Dimensionen ein Potential für eine wachsende Fremdenfeindlichkeit und das Aufkommen von rechten Bewegungen. In der sozialstrukturellen Dimension ist dies zum Beispiel die Diskriminierung von weniger Leistungsfähigen und die Einforderung von Etabliertenvorrechten, in der institutionell-partizipatorischen Dimension die Meinung, dass Menschen, die nicht als zugehörig definiert werden, von der politischen Meinungsbildung ausgeschlossen werden sollten. In der personalen Dimension ist es die Abwertung von „als fremd deklarierten Gruppen” (Heitmeyer, 2018, S. 158), während das „Deutsch-Sein” an Wert gewinnt.


Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, bestehend aus 300 Interviews, hat die wachsende Unzufriedenheit in Schweden und deren Zusammenhang mit dem Erfolg der Schwedendemokraten untersucht (Lindell, et al., 2022). Diese hat zum Ergebnis, dass in Schweden insbesondere die Unzufriedenheit mit dem Wohlfahrtsstaat wächst. Das Gefühl, von dem Staat vergessen zu werden, werde dabei immer stärker. Dies beziehe sich unter anderem auch auf die Gesundheitsversorgung, bei welcher der Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Gegenden und sozial starken und schwachen Gegenden in den letzten Jahren größer geworden ist (Lindell, et al., 2022, S. 8). Der gesundheitliche Zustand wurde daher bei Teilen der Bevölkerung das größte Alltagsproblem und die Angst, bei gesundheitlichen Problemen nicht rechtzeitig und gut versorgt zu werden, sei stark präsent. Neben der gesundheitlichen Sorge wachse außerdem die finanzielle Sorge. Dies beziehe sich zum einen auf ältere Menschen und die Sorge um eine ausreichende Rente, zum anderen beziehe es sich aber auch auf jüngere Menschen. Niedrigere Löhne, weniger gesuchte Festanstellungen und eine höhere Arbeitslosigkeit führen zu wachsenden finanziellen Sorgen in der schwedischen Gesellschaft, zu Angst vor Arbeitslosigkeit und zu negativen Zukunftserwartungen, bezogen auf die individuelle Lebenssituation. Die negativen Zukunftserwartungen und wachsenden Sorgen zeigen sich dabei durch eine starke Unzufriedenheit gegenüber dem schwedischen Staat. Diese richte sich dabei größtenteils gegen die Politik und weniger gegen das wirtschaftliche System. Unzufriedenheit mit dem Staat entstehe außerdem durch eine wachsende Unsicherheit in der Gesellschaft. Die Befragten der Studie gaben an, sich aufgrund der steigenden Kriminalitätsrate immer unsicherer zu fühlen (Lindell, et al., 2022, S. 10). Dies liege unter anderem auch daran, dass die Polizeipräsenz in einigen Teilen Schwedens in den letzten Jahren abgenommen habe. Die Bürger fühlen sich dadurch sich selbst überlassen und verlieren Vertrauen einerseits in ihr direktes soziales Umfeld und anderseits in die lokale und nationale Politik. Dabei erläuterten die Befragten Kontrollverluste in Bezug auf ihr Umfeld und ihr alltägliches Leben. Die Studie hat dabei ebenfalls zum Ergebnis, dass die wachsende Unsicherheit und Unzufriedenheit größtenteils mit der schwedischen Einwanderungs- und Integrationspolitik in Verbindung stehen. Insbesondere für die steigende Kriminalität machen die Befragten die Integrationspolitik und die große Anzahl an Einwanderern in Schweden verantwortlich. Weitere Punkte, welche eine Rolle spielen, sind kulturelle Konflikte auf dem Arbeits- und Wohnmarkt und die höhere Arbeitslosigkeit bei Migranten und die damit erschwerte Integration. Viele der Befragten spüren einen Konkurrenzkampf mit Migranten, der durch Knappheit an Arbeitsplätzen, öffentlichen Dienstleistungen und Sozialtransfers entstehe. In Bezug auf die Politik gebe es außerdem das Empfinden, dass die Politik zu viel Geld in die Einwanderungs- und Integrationspolitik investiert und dieses nicht nutzt, um andere Probleme zu lösen. Viele der Befragten beschrieben die Politik als elitär und abgehoben (Lindell, et al., 2022, S. 12). Sie fühlen sich von der Politik nicht verstanden oder repräsentiert und verspüren ein Misstrauen gegenüber Politikern.


Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Desintegrationsprozesse, wie Heitmeyer sie in Deutschland festgestellt hat, auch in Schweden auftreten. Obwohl die Studie der Ebert-Friedrich-Stiftung alleine nicht repräsentativ für ganz Schweden ist, gibt sie dennoch ein Meinungsbild der schwedischen Gesellschaft wieder, welches unter anderem das Aufkommen von fremdenfeindlichem Denken begründet. Desintegrationsprozesse auf allen drei Ebenen wie negative Zukunftserwartungen, Vertrauensverluste in die Politik oder soziale Unsicherheit treten zunehmend in der schwedischen Gesellschaft auf und führen zu Kontrollverlusten. Diese Desintegrationsprozesse hat die Studie in eine direkte Verbindung mit der Einwanderungs- und Integrationspolitik gebracht. Wenn die Integration von Einwanderern in einem Land scheitert oder teilweise scheitert, hat dies einen Einfluss auf die Gesamtbevölkerung des Landes. Die negativen Auswirkungen der Integrationspolitik wie eine steigende Arbeitslosigkeit und Kriminalität führen zu gesellschaftlichen und individuellen Kontrollverlusten, wodurch die Fremdenfeindlichkeit wächst. Dies ist nicht die einzige Begründung für eine steigende Fremdenfeindlichkeit oder den Aufstieg der Schwedendemokraten, aber sie ist ein Faktor, der den gesellschaftlichen Wandel beeinflusst.


5.2 Demokratieentleerung in Schweden


Die Demokratieentleerung zeigt sich nach Heitmeyer durch eine Ökonomisierung des Politischen, die zu einem Kontrollgewinn für wirtschaftliche Akteure und zu einem Kontrollverlust für die nationalstaatliche Politik führt. Die dadurch entstehende Alternativlosigkeit bei politischen Entscheidungen führe zu einer Unzufriedenheit in der Gesellschaft sowie zu einer geringeren Wahlbeteiligung, da der Eindruck entstehe, politische Partizipation habe eine geringe bis keine Bedeutung. Die empfundene Machtlosigkeit und Entfremdung vom politischen System zeigen sich häufig durch die Abwertung und Diskriminierung von schwächeren Gruppen. Diese würden direkt für Probleme verantwortlich gemacht werden, wodurch die Unzufriedenheit in der Gesellschaft häufig instrumentalisiert und von rechtspopulistischen Parteien genutzt werde.


Für die Analyse der wachsenden Demokratieentleerung in Deutschland hat Heitmeyer die Wahlbeteiligung der Bundestagswahlen seit 1949 mit einbezogen (Heitmeyer, 2018, S. 188). Dabei sieht er insbesondere die Finanzkrise als Ursache für eine rückläufige politische Partizipation. Heitmeyer begründet die sinkende Wahlbeteiligung, insbesondere in den Jahren 2005 bis 2009, durch die wachsende Unzufriedenheit in der Gesellschaft. Wachsende Krisenwahrnehmung und Kontrollverluste, wirtschaftliche Kontrollverluste auch in Zusammenhang mit der Finanzkrise, führen zu einer Unzufriedenheit mit der Politik. Diese äußere sich in einer sinkenden politischen Partizipation, welche erst wieder steige, wenn politische Angebote entstehen, die die Unzufriedenheit aufnehmen und die Wut der Gesellschaft teilen. Heitmeyer hat daher für die Analyse über eine wachsende Demokratieentleerung ebenfalls sechs Kategorien in Form von Aussagen definiert, die die Demokratieentleerung beschreiben (Heitmeyer, 2018, S. 183).

1. Demokratieermäßigung: Die Akzeptanz, dass die Wirtschaft mehr Macht hat als die Politik und wirtschaftliche Entscheidungen auf Kosten der Demokratie getroffen werden.

2. Demokratieaushöhlung: Die Freiheit der Bürger wird fortlaufend eingeschränkt.

3. Demokratiemissachtung durch Eliten: Politiker nehmen sich mehr Rechte heraus als andere Bürger.

4. Demokratievernachlässigung: Es wird zu wenig gegen soziale Missstände protestiert.

5. Demokratiezweifel: Probleme werden nicht mehr gelöst.

6. Demokratiezuwachs: Forderungen nach mehr Einspruchsrechten der Wähler, Schutz der Freiheit, bessere Medienberichterstattung und strengere Vorgehensweise bei Verstößen von Politikern.


Im Zuge einer Umfrage hat die Forschung Heitmeyers dabei zum Ergebnis, dass die Unzufriedenheit in Deutschland hoch ist. In Bezug auf die Demokratieermäßigung teilten über 80 Prozent der Befragten die Meinung, dass die Politik durch die Ökonomik faktisch entmachtet ist (Heitmeyer, 2018, S. 184). Auch bei den anderen Kategorien ließ sich eine starke Unzufriedenheit und ein starkes Misstrauen gegenüber der Politik feststellen. Dabei stellt Heitmeyer fest, dass Personen, welche Desintegrationsängste haben, überdurchschnittlich oft auch einer Demokratiemissachtung, Demokratievernachlässigung und einem Demokratiezweifel zustimmen. Diese Demokratieentleerung führe in der Gesellschaft zu starken Kontrollverlusten, die sich auch auf das persönliche Leben beziehen. Dies äußert sich nach Heitmeyer durch eine Abwertung von schwächeren Gruppen, sowie durch ein wachsendes Streben nach autoritärer Politik, um gegen die Unzufriedenheit anzukämpfen und die nationale, politische Kontrolle über die Wirtschaft wiederzuerlangen.


In Bezug auf Schweden ist festzustellen, dass die Wahlbeteiligung weniger stark gesunken ist als in Deutschland. Grundsätzlich sinkt die Wahlbeteiligung in fast allen europäischen Staaten seit einigen Jahren (Cremer, o.D., S. 4). Dabei ist die politische Partizipation bei den nationalen Wahlen am höchsten und bei den Europa- und Regionalwahlen geringer. Die Wahlbeteiligung ist innerhalb von Europa grundsätzlich in den nördlichen Ländern höher als bei den südlichen Ländern und insbesondere in Skandinavien sehr hoch. Obwohl sie auch in Schweden leicht gesunken ist, liegt sie dennoch seit den 1990er Jahren stabil zwischen 80 und 90 Prozent (Cremer, o.D., S. 5). Eine ähnliche Entwicklung wie Heitmeyer sie in Deutschland festgestellt hat, ist in Schweden daher nicht vorhanden. Dort ist die Wahlbeteiligung zwar leicht gesunken, jedoch nicht so stark wie in Deutschland. Nach der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung liegt die Beteiligung von Interessengruppen am Gesetzgebungsprozess in Schweden von 41 Ländern auf Platz 25 (OECD, o.D.). Damit liegt Schweden unter dem OECD-Durchschnitt und hat ein verhältnismäßig geringes Level an politischem Engagement in der Gesellschaft. Ähnlich sind die Entwicklungen bei der Demokratieentleerung, wie Heitmeyer sie in den sechs Kategorien definiert hat. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hat dazu europäische Länder in Bezug auf ihr Vertrauen und ihre Zufriedenheit gegenüber dem Staat verglichen (Enste, Suling, 2020). Die Studie bezieht sich dabei auf das Vertrauen in und die Zufriedenheit mit der Regierung, dem Parlament, der politischen Stabilität, dem Kreditgeber- und - nehmerschutz, der Rechtsstaatlichkeit, der Effektivität der öffentlichen Verwaltung und der Korruptionsbekämpfung. Die Studie hat zum Ergebnis, dass Schweden von den zwanzig europäischen Ländern, welche in der Studie mit einbezogen wurden, auf dem ersten Platz liegt (Enste, Suling, 2020, S. 16). Bei der Zufriedenheit mit dem wirtschaftlichen System liegt Schweden an sechster Stelle und bei der Zufriedenheit mit dem Gesellschaftssystem an dritter Stelle. Bei der Zufriedenheit mit dem politischen System ist jedoch auch in Schweden festzustellen, dass diese zwischen 2015 und 2018 abgenommen hat (Enste, Suling, 2020), wie dies in vielen europäischen Ländern der Fall ist.


In Schweden sind grundsätzlich auch Auswirkungen zu erkennen, die mit der Demokratieentleerung zusammenhängen. Diese sind jedoch nicht so gravierend wie in Deutschland, wo die Unzufriedenheit mit dem Staat und der Politik bedeutend höher ist. Die Ursache für autoritäre Versuchungen und rechte Bewegungen ist in Schweden somit nicht so eindeutig auf die Demokratieentleerung zurückzuführen, wie Heitmeyer dies für Deutschland tut. Insbesondere Kontrollverluste, die auf die Ökonomisierung der Politik zurückzuführen sind, sind in Schweden weniger stark festzustellen als in Deutschland. Dennoch wachsen auch in Schweden die Unzufriedenheit und die Fremdenfeindlichkeit. Dies ist auch auf die Einwanderungs- und Integrationspolitik zurückzuführen (Lindell, et al., 2022), jedoch ist dies nicht der einzige Grund. Während in der schwedischen Gesellschaft teilweise Unzufriedenheit herrscht, insbesondere mit der Migrationspolitik, ist die gefühlte Machtlosigkeit und Entfremdung von dem politischen System nicht ausgeprägt, was unter anderem an der hohen Wahlbeteiligung zu erkennen ist. Während die Demokratieentleerung in Schweden ein Grund für das Aufkommen von rechten Bewegungen sein kann, hat sie dennoch einen geringeren Einfluss als in Deutschland und kann nicht als entscheidende Ursache für derartige gesellschaftliche und politische Entwicklungen betrachtet werden. Dennoch kann sie auch in der Zukunft an Bedeutung gewinnen und sollte daher im politischen Diskurs nicht außer Acht gelassen werden.


6. Schluss


Nach Heitmeyer können mit der Globalisierung Desintegrationsprozesse und Demokratieentleerungen auftreten, die Kontrollverluste auf fünf verschiedenen Ebenen auslösen. Dies sind politisch-institutionelle Kontrollverluste, kollektive politische Kontrollverluste, politische Kontrollverluste auf individueller Ebene, soziale Kontrollverluste und individuell-biographische Kontrollverluste. Diese Arbeit hat sich in Bezug auf die Analyse der aktuellen Entwicklungen in Schweden hauptsächlich auf die politischen Kontrollverluste auf individueller Ebene und auf die sozialen Kontrollverluste konzentriert. Hierbei war festzustellen, dass die teilweise gescheiterte Integrationspolitik in Schweden und die damit steigende Arbeitslosigkeit und Kriminalität der Migranten zu einem Vertrauensverlust in die Politik geführt haben. Die frühere liberale Einwanderungs- und Integrationspolitik wurde dadurch immer weniger unterstützt, was eine Ursache für den Aufstieg der Schwedendemokraten darstellt, welche eine restriktive Einwanderungspolitik anstreben und die Auswirkungen der gescheiterten Integrationspolitik bekämpfen wollen. Kontrollverluste entstehen ebenfalls durch den Flexibilisierungszwang auf dem Arbeitsmarkt, welcher durch die Globalisierung entstanden ist und in Schweden durch einen gefühlten Konkurrenzkampf mit Migranten geprägt ist. Die Finanzkrise kann auch als eine Ursache für Kontrollverluste in der Gesellschaft gesehen werden. In Schweden wiederum hat die Flüchtlingskrise 2015 zu einer Überforderung des Staates in Bezug auf Einwanderung und Integration und zu einem Kurswechsel in der Politik geführt. Obwohl die Kontrollverluste, die durch diese beiden Krisen entstehen, unterschiedlich sind, verdeutlicht der Kurswechsel und der Erfolg der Schwedendemokraten dennoch, wie sehr die Krise um die Integration von Migranten die Bevölkerung beeinflusst und Kontrollverluste ausgelöst hat. Diese Kontrollverluste stellen im Folgeschluss eine Ursache für die wachsende Fremdenfeindlichkeit und die abweisende Einstellung gegenüber einer liberalen Einwanderungspolitik dar.


6.1 Fazit


Die These dieser Arbeit ist, dass durch die Globalisierung verursachte Desintegrationsprozesse und Demokratieentleerungen echte und gefühlte Kontrollverluste erzeugen, die zu rechten Bewegungen und zu einem erhöhten Aufkommen von Fremdenfeindlichkeit führen. Dabei sollte nicht bewiesen werden, dass besagte Kontrollverluste die einzige Ursache für wachsende Fremdenfeindlichkeit sind. Sie stellen ein Phänomen dar, welches in einer Gesellschaft auftreten kann und eine wachsende Fremdenfeindlichkeit fördert. In Schweden sind solche Kontrollverluste zu erkennen und diese stehen in einem Zusammenhang mit der politischen Entwicklung der letzten Jahre. Dabei sind die Kontrollverluste stärker auf die Desintegrationsprozesse zurückzuführen als auf die Demokratieentleerung. Vertrauensverluste und Unsicherheit in verschiedenen Bereichen stellen eine Ursache für wachsende Fremdenfeindlichkeit dar. Die Demokratieentleerung hingegen ist in Schweden nicht vergleichbar stark zu erkennen. Die Entfremdung mit der Politik und die gefühlte Machtlosigkeit der Bevölkerung ist weniger stark ausgeprägt. Auch wenn Anzeichen für eine Demokratieentleerung zu erkennen sind, sind diese dennoch weniger ausschlaggebend für Kontrollverluste, als es die Desintegration ist.


Die teilweise gescheiterte Integrationspolitik in Schweden der letzten Jahre, welche insbesondere zu einer höheren Arbeitslosigkeit und einer höheren Kriminalitätsrate unter Migranten geführt hat, ist dabei ebenfalls verantwortlich für auftretende Kontrollverluste in der Gesellschaft. Die daraus resultierenden aufsteigenden rechten Bewegungen beeinflussen wiederum die Maßnahmen zur Integrationspolitik, welche in Folge des Kurswechsels 2015 und auch danach restriktiver geworden sind. Dies wird sich nach der vergangenen Wahl 2022 und dem Einstieg der Schwedendemokraten in die Regierung voraussichtlich nicht ändern.


6.2 Beantwortung der Forschungsfrage


Die Forschungsfrage dieser Arbeit, „Inwieweit hängt der gesellschaftliche und politische Wandel der letzten Jahre in Schweden mit der dortigen Integrationspolitik zusammen?” kann daher folgendermaßen beantwortet werden: Ein Zusammenhang zwischen dem Wandel der Politik und dem Erfolg der Integrationspolitik wurde in der Arbeit festgestellt. Die Auswirkungen, die eine gescheiterte Integrationspolitik hat, führen zu einer Unzufriedenheit und Sorge in der Bevölkerung, die das Aufkommen von fremdenfeindlichem Denken und den Erfolg von rechten Bewegungen bestärken. Diese Unzufriedenheit tritt nicht ausschließlich, aber auch in Form von Kontrollverlusten auf, die die Bevölkerung erlebt oder zu erleben glaubt und daher danach strebt, die Kontrolle wieder zu erlangen. Dies tut sie durch den Wunsch nach einer autoritären Politik, welche den Glauben erzeugt, die verlorene Kontrolle wiedererlangen zu können und dadurch die gesellschaftlichen Kontrollverluste für ihre politischen Zwecke instrumentalisiert. Die Frage, inwieweit der Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Wandel und der Integrationspolitik besteht, ist aufgrund des beschränkten Umfangs dieser Arbeit nicht eindeutig zu beantworten. Die Strategien und Erfolgsursachen einer gelungenen Integrationspolitik sind sehr vielfältig und variieren nach Land und Migrationsverhalten. Für das Scheitern von Integration bestehen verschiedene Gründe wie Vermögensungleichheit, fehlender Wille, hohe Arbeitslosigkeit oder fehlende Sozialisierung der betroffenen Gruppen, auf welche die Politik nur beschränkt Einfluss nehmen kann. Obwohl die Integrationspolitik in Schweden verantwortlich für Probleme mit Migranten und wachsendes fremdenfeindliches Denken ist, ist sie dennoch hierfür nicht die einzige Ursache. Gleiches gilt somit auch für den politischen Wandel. Der Erfolg der Schwedendemokraten ist nicht monokausal durch Mängel der Integrationspolitik begründet. Ihre Ursachen und die Versprechen der Schwedendemokraten, diese zu bekämpfen, sind ein Grund, warum ihre Wählerschaft wächst, sie ist aber nicht der Einzige.


Somit besteht ein Zusammenhang zwischen dem politischen Wandel in Schweden und der Integrationspolitik. Es existieren jedoch auch andere Faktoren für den politischen Wandel, welche in dieser Arbeit nicht behandelt wurden. Ebenfalls bleibt offen, inwieweit die Kontrollverluste in der schwedischen Gesellschaft auch bei einer gelungenen Integrationspolitik aufgetreten würden und wie stark dann das Aufsteigen von rechten Bewegungen in der Politik ausfallen würde.


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